Australien

Vier Monate im Outback

Down Under im Winter

Bier als Hauptnahrungsmittel und Ersatzwährung, aufs Brot geschmierte Linsensuppe und ein Englisch, das man auch nach vier Monaten nicht versteht: Die Realität in Australiens Outback übertrifft alle Klischees.

Vier Monate habe ich in einer Baufirma im Busch, in Lake Cargelligo, gearbeitet – mit liebevoll-rauen, kauzigen Bauarbeitern, die nach Sonnenuntergang vor allem trinken.

Ich war im Juni in Australien gelandet … und der Winter hat mich kalt erwischt. Denn es ist ein Mythos, genährt durch geschicktes Marketing, dass es Down Under immer warm ist.

Ein Alkoholladen, zwei Pubs, drei Tankstellen und vier Kirchen: Meine australische „working experience“ verschlägt mich nach Lake Cargelligo, einem 1.300-Einwohner-Ort am Rande des Outbacks, 700 km westlich von Sydney im Bundesstaat New South Wales gelegen. Während die Gegend fast nur aus Busch und trockenem Weideland besteht, liegt der Ort idyllisch am gleichnamigen See.

Die nächste Stadt, Griffith, ist 130 Kilometer entfernt, so dass mich Andie, mein Chef für die kommenden Monate, standesgemäß mit seiner Cessna 232 abholen lässt. Es gibt auch nicht viele andere Möglichkeiten zu fliehen: Einmal am Tag fährt ein Bus in einen unbedeutenden Nachbarort.

Zwar liegen viele Orte in Australien noch isolierter – aber anderthalb Stunden Autofahrt zum Zahnarzt dauern den Bewohnern wohl zu lange: Jedes zweite Gebiss dürfte den Ort schon seit mehreren Jahren nicht mehr verlassen haben. Zum Wegfahren gibt es sonst auch wenig Gründe – als Zentrum der Region verfügt Lake Cargelligo über eine Mainstreet mit Bäcker, Snackshops, Polizeistation, einem halben Dutzend Autowerkstätten, Post und Zeitungsladen (aktuelle Ausgaben kommen erst um zehn Uhr). Der Fleischer führt alles außer Känguru, während die beiden Supermärkte sogar Sauerkraut anbieten. Als ich einmal die letzten vier Büchsen gekauft hatte – ich war mit Kochen dran und habe natürlich etwas klischeehaftes serviert – , stand eine Woche später wieder Nachschub da.

Dort, wo sich kein eigener Laden lohnt, werden die Geschäftsbereiche zusammengelegt: Der deutschstämmige Shell-Tankwart Mister Schneider trägt auch Pakete aus und repariert Rasenmäher – in Australien genauso wichtig wie Grills. Die BP-Tankstelle, vom ebenfalls deutschstämmigen Mister Heinz betrieben, beherbergt die größte Videothek am Ort, und die Niederlassung des staatlichen Energieunternehmens Country Energy unterhält das Internetcafé. In der Bibliothek werden gleichzeitig Autos registriert.

Inklusive Friseur und Heilsarmee hat der Ort alles, was man braucht – es sei denn, jemand benötigt ein DVD-Gerät oder die aktuellsten Playstation-Spiele: Anders als die Leute, die Zahnschmerzen haben, fährt mein neuer Freund Bill allein wegen einer frisch veröffentlichten DVD anderthalb Stunden nach Griffith. Kaum hält er den Film in seinen Händen, kehrt er wieder um. Als Bushie mag er keine Städte.

Seit meiner Ankunft in Sydney Anfang Juni sind Mäntel und Handschuhe angesagt – doch nichts davon habe ich nach Australien mitgebracht. Sie zeigen doch im Fernsehen immer nur den sonnenüberfluteten Bondi Beach. Oder sind das Archiv-Aufnahmen? Natürlich wusste ich, dass es hier eine Jahreszeit gibt, die Winter heißt – ich dachte jedoch, es sei dann nur kälter, aber eben nicht richtig kalt.

Im Landesinnern, in Lake Cargelligo, sinkt die Temperatur nachts unter null Grad, Reif bedeckt am Morgen die Wiesen, Autoscheiben sind vereist, und bei Andies Flugzeug ist die Batterie nach der Nacht so schwach, dass wir vorm Abflug Starthilfe brauchen. Der See, etwas Seltenes im australischen Hinterland und sonst ein Wassersportzentrum, liegt monatelang brach. Obwohl tagsüber die Sonne knallt, ziehe ich vier, fünf Lagen T-Shirts, Pullover und Jacken über, denn es weht ein scharfer Wind. Der blaue Himmel gaukelt Sommerfeeling nur vor, nach Sonnenuntergang wird es wieder eisig. Ohne Pause heizen wir daher monatelang Andies Kanonenofen – eine alte Waschmaschinentrommel, über der ein aufgeschnittenes, halbes Fass als Abzug hängt.

Auch während meiner Reisen in der Zeit nach Lake Cargelligo bessert sich das Wetter nicht. In Adelaide gießt es den ganzen Tag, und die Woche in Westaustralien kann sich zwischen diesig, nasskalt, windig und verregnet nicht entscheiden. Nur bei den Fotostopps habe ich Glück: Für die wichtigsten Momente kommt die Sonne heraus – und dann drücken wohl auch die Leute vom Australian Wheather Marketing auf den Auflöser.

Meine zwei einzigen ungetrübten Sommerwochen erlebe ich im Norden und im Herzen Australiens sowie im tropischen Queensland: Zum ersten Mal seit Monaten ziehe ich Schlappen und kurze Hosen an.

Zurück in Sydney kann ich die legere Kleidung schon eine Woche vor meinem Rückflug wieder einpacken. Obwohl in Australien die Jahreszeiten anders herum funktionieren sollen, trübt auch hier im Oktober typisches Herbstwetter die Stimmung: An vier von fünf Tagen regnet es. Fürs erste lege ich einen Fernsehtag ein; am nächsten Abend muss ich mit Schirm zur Oper. Zum Glück habe ich auf meiner ersten Reise zwei Jahre zuvor bereits ausreichend Sonnenfotos von der Harbour Bridge gemacht; sonst würden meine Freunde zu Hause denken, in Australien gäbe es tatsächlich mal einen bewölkten Tag.

Mein Abflug nach Europa dann: Australien weint bitterlich.

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Meine Kollegen verlegen hauptsächliche große Wasserrohre und scheinen einem Drehbuch entsprungen zu sein:

George: Mitte 40, ein Harley-Davidson-Typ mit grauem Ho-Chi-Minh-Bart, landet im Krankenhaus, weil ihn ein 400 Kilogramm schweres Rohr getroffen hat, das in den Graben gerollt ist, in dem er gerade stand; es ist mein zweiter Tag auf der Baustelle, und er überlebt wie durch ein Wunder;

Antony: ein intellektueller Ex-Polizist, Ende 50, der angeblich an Georges Unfall Schuld ist und deswegen freiwillig die Firma verlässt, irgendwo hat er das deutsche Wort „Katzenficker“ aufgeschnappt;

Steve: ein Halb-Aborigine, Ersatz für >>George, braver, zuverlässiger Familienvater, als einziger der Truppe kommt er aus Lake Cargelligo und trinkt keinen Alkohol;

Martin: Anfang 60, ein erfahrener Buschpilot und Ex-Fluglehrer mit Opalmine, den ich nicht verstehe; er kümmert sich ausschließlich um Arbeitsschutz, legt also nicht selbst Hand an; außerdem fliegt er die Firmenmaschine, wenn etwas aus dem Baumarkt geholt werden muss; Fliegerzeitschriften und ein Magazin mit gebrauchten Baggern und Bulldozern sind seine Hauptlektüre;

Bill (Spitzname): mein bester Freund, ein liebenswürdiger Heißsporn, 28 Jahre, sieht aus wie 38, Typ „Rugby-Spieler“, Drei-Tage-Bart, trinkt täglich fünf 0,8-Liter-Flaschen Victoria Bitter-Bier, kifft für 100 Dollar die Woche, spielt martialische Playstation-Spiele und rast mit seinem 90-PS-Motorrad durch den Busch. Ihm fehlt zum Glück nur noch der Besuch des Münchner Oktoberfestes, von dem er mir jeden Tag vorschwärmt, kommt aus der Stadt Warren, genauso wie >>Robert;

Robert: Ende 30, ein Familienvater, der schon fünf Mal beim Drink-Driving erwischt wurde und deswegen kein Truckfahrer mehr ist, sondern hier arbeitet; als er – nach unzähligen Malheuren – den Pipeline-Graben mit teurem Sand statt kostenlosem Abraumboden zuschüttet, wird er entlassen. Zuvor hat er beim Reifenwechsel ein Lkw-Rad nur unzureichend befestigt: beim Fahren auf freier Strecke wird >>Andie vom vierten Rad seines Trucks überholt;

Andie: der Chef, vor 40 Jahren als 14-Jähriger mit seinen Eltern aus Deutschland eingewandert; ich muss aufpassen, dass ich nicht zu viel Deutsch mit ihm spreche, schließlich bin ich vorrangig zum Englischlernen nach Australien gekommen.

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„Uh uh uheh?“, brabbelt der 60-jährige Mann, der mit Bomberjacke am Bahnhof von Parkes steht. Seine mir unverständliche, Keller tiefe Bassstimme scheint aus einer Blechtonne zu hallen.

Gerade angekommen, wollte ich Andie im 300 Kilometer entfernten Lake Cargelligo anrufen, um ihn zu bitten, mich mit seinem Flugzeug abholen zu lassen. Doch er hatte mir schon jemanden entgegen geschickt.

„Uh uhel“, stellt sich der Mann vor, was offenbar bedeutet, dass er Martin heißt. Neben seiner Pilotenjacke trägt er einen Cowboy-Hut, eine blaue Arbeitshose und Bauarbeiterstiefel.

„Uh uh uheh?“, fragt er mich erneut. Ich überlege, es ist keine Aborigine-Sprache, er muss mich tatsächlich auf Englisch gefragt haben „Are you Alex?“

„Yes, I’m Alex“, erwidere ich nach einer minimalen Denkpause und freue mich, dass es so schnell mit dem Abholen geklappt hat, während Martin ein Taxi heranruft. Das Auto bringt uns zum Flugplatz, und ein kurzer Test ergibt, dass ich keine Probleme habe, unsere Fahrerin zu verstehen.

Martin bereitet die Cessna zum Start vor, ständig ruft er mir etwas zu. Ich dechiffriere kaum ein Wort, er röhrt eher, als dass er spricht. Die gepressten Worte: „Let’s fly“ hören sich an wie „uh uh“. Auch auf mehrmalige Nachfrage hin ist es schwer, ein einzelnes Wort aus dem Gedonner herauszufiltern.

Die Verständigung bessert sich auch nicht, als wir das Flugzeug starten und Motorenlärm die Kabine erfüllt. Wir unterhalten uns über den rauschenden Sprechfunk. Ich schreie in das Mikro, Martin dröhnt zurück. Mir ist es ein Rätsel, wie ihm der Fluglotse im mehr als 1.200 Kilometer entfernten Melbourne-Center die Starterlaubnis erteilen kann.

Wir überfliegen trockenes Buschland, eine Bahnstrecke teilt die Landschaft, daneben schlängelt sich ein Fluss. Damit wir nicht sprachlos nebeneinandersitzen, tippe ich der Reihe nach auf die einzelnen Instrumente im Cockpit und lasse mir deren Funktion erklären. Zwar verstehe ich nichts, doch die einstündige Flugzeit bringen wir so gut herum. „Eigentlich können wir gleich wieder umkehren“, denke ich mir. „Wenn in dieser Gegend alle so sprechen, wird mein Englisch kaum Fortschritte machen.“

Glücklicherweise kommt es anders. Andie ist gebürtiger Deutscher, und Bill, Robert und Steve artikulieren sich verständlich. Zwar reden sie schnell, schalten aber sofort einen Gang runter, wenn sie Fragezeichen in meinen Augen sehen. Lange Abende am Kaminfeuer trainieren mich gut im strine, dem australischen Akzent, der für sie allerdings keiner ist, da sie den Maßstab des britischen Englischs nicht anerkennen. Rein sprachlich liegt meine Lernbandbreite zwischen millionenschweren Angeboten zum Verlegen einer Wasserpipeline, Terminator-Filmen – in denen naturgemäß wenig gesprochen wird – und den ortsüblichen Gesprächsinhalten: Frauen, Wildschweinjagd, die Dürre, korrupte Politiker und das einzig wahre Landleben.

Eigentlich sind das auch Martins Themen, der abends gerne Witze erzählt – zugegebenermaßen vielleicht das anspruchvollste und schwierigste einer Sprache. „Martin, kannst du bitte deutlicher sprechen?“, frage ich.

„Nein, kann ich nicht“, antwortet er erbarmungslos.

Bis zum letzten Tag habe ich Kommunikationsprobleme. Nach drei Monaten sagt er mir: „Uh uh uh uh uh uh.“

Ich schüttle den Kopf. „Wie bitte?“

„Uh uh uh uh uh uh“, erreicht die verschlüsselte Botschaft erneut mein Ohr.

Ich denke nach. Wie? Ach so! „POST – GO – NOW!“ Ich steige ins Auto und bringe einige Briefe weg.

Es tröstet mich, dass selbst Bill seinen Geheimcode nur schwer entschlüsseln kann. Martin bekommt deswegen von uns beiden den internen Spitznamen „Goldberg“ – wie die Filmfigur bei „Police Academy“ mit der schrillen Stimme, die genauso unverständlich ist. Andie dagegen kann sich nicht beklagen. Er kennt Martin seit mehr als 30 Jahren und hat sogar das Fliegen von ihm gelernt. Offenbar hat er kapiert, was die Instrumente im Cockpit bedeuten. Von Anfang an ist er unfallfrei unterwegs.

Kein Lokalgast artikuliert sich mehr normal, Frauen tanzen auf den Tischen, junge Leute rennen aufgekratzt umher. Die meisten Besucher stehen trinkend in kleinen Runden zusammen und schreien sich an; und weil das jeder tut, reden alle immer lauter. Auf dem Männerklo pinkeln drei besoffene Typen aus anderthalb Metern Entfernung Richtung Wand – offenbar ein Wettbewerb, wer am weitesten kann.

Jeden Sonnabend trifft sich die Jugend Lake Cargelligos im Bowling-Club und hat nur ein Ziel: sich volllaufen zu lassen. Es gibt keine richtigen Gespräche, kein nettes Beisammensitzen und kein genüssliches Trinken – in dem grell beleuchteten Saal ist das Ziel so schlicht wie beim Männertag in Deutschland, nur dass der hier mindestens einmal pro Woche und von allen gefeiert wird. Unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe betrinkt sich jeder in Rekordzeit. Selbst Jimmy ist mit von der Partie. Der Pub-Besitzer hat sein Royal Mail Hotel dicht gemacht und sich und seine Gäste mit dem Kneipenbus zur Konkurrenz gefahren. Die Middy-Gläser (250 Milliliter) sind noch nicht halbleer, da ordert er bereits Nachschub. Bei diesem Gemütszustand ist es kein Wunder, dass am Tresen soviel Wechselgeld auf dem Boden liegt, dass ich mir davon zwei kleine Gläser kaufen kann – natürlich Light-Bier.

Nicht dem Alkohol geschuldet, sondern der unvoreingenommen australischen Gastfreundschaft, ist das Angebot von Peter, einem Arbeiter auf Montage, bei ihm zu Hause in Sydney Station zu machen, bevor ich nach Deutschland zurückfliege. Er hatte mich an der Theke angesprochen, da ich „beer“ offenbar wie „Bier“ ausgesprochen habe und er Deutschland mag. Schließlich habe ich ihm vorgeschwärmt, dass ich Lust hätte, mal in Sydney zu leben. „Kein Problem“, sagt Peter, der noch halbwegs nüchtern ist: Er werde zwar nicht da sein, aber ich könne bei ihm gerne einige Tage alleine wohnen. Ich solle mir einfach bei seinem Vater den Schlüssel abholen und zum Schluss die Tür zuschmeißen. Nur den großen neuen Flachbildfernseher, den solle ich bitte stehen lassen. Und so wird es tatsächlich kommen. Außer der halben Stunde in der Kneipe werden wir uns nicht mehr sehen, bevor er mir sein schickes Innenstadt-Apartment in Sydney überlässt.

Auch die magere Aushilfe aus dem Supermarkt, die neben uns feiert, hat eine gewisse Deutschland-Affinität: „Heil Hitler! Schnell, schnell!“, prostet sie mir zu. Das sind die einzigen, von ihrem deutschen Vater gelernten Worte, an die sie sich jetzt erinnern kann. Fünf bis sechs Liter Bier am Abend sind keine Seltenheit. Voller Stolz wird mir berichtet, dass der fünfte Kontinent inzwischen Oktoberfest-Deutschland im Bierkonsum überholt hat. Die Zeitungen drücken das nüchterner aus: 39 Prozent aller Australier konsumieren Alkoholmengen, die langfristige Gesundheitsschäden verursachen können – nicht mitgerechnet die Leute, die zu jung sind, Alkohol kaufen zu dürfen und durch die Statistik fallen: Die meisten von ihnen bleiben zu Hause und kiffen. Manche Aborigines im Club sind nur deswegen nüchtern, weil sie ihre Sozialhilfe an drei Spielmaschinen gleichzeitig verzockt haben. Lohn und Arbeitslosengeld werden daher wöchentlich ausgezahlt. Sonst wären viele Australier einen halben Monat lang blank – und wahrscheinlich auf Entzug.

Ich bin jedoch der Einzige, der gegen feine Manieren verstößt: Da die Saufhalle offiziell ein Bowling-Club ist, und es in australischen Clubs verboten ist, eine Kopfbedeckung zu tragen, schreien mich alle empört an, als ich die Anlage mit einem Piratentuch betrete. Auf korrektes Benehmen wird offenbar größten Wert gelegt. Doch sie schmeißen mich nicht raus oder drohen mir mit Lokalverbot – nach Landessitte verlangt die Meute eine Saalrunde. Glücklicherweise kann ich mich als Ausländer rausreden, allerdings ohne mit „Heil Hitler!“ zurückzugrüßen.

 

In der folgenden Woche gehen die Alkoholexzesse im „Royal Mail Hotel“, einem der beiden Pubs, weiter: Der Rugby-Club The Tigers hat die Regionalmeisterschaft gewonnen. Alle Spieler besaufen sich drei Tage lang, kein Mannschaftskamerad kann sich dem Gruppendruck entziehen. Jimmy ist das zu anstrengend. Kurzerhand drückt er den Jungs den Kneipenschlüssel in die Hand und verabschiedet sich ins Bett.

Eine weitere Gelegenheit, sich kostengünstig abzufüllen, bietet mittwochs die Pub-Aktion „toss the boss“. Der Münzwurf – „tail or head?“ – entscheidet, ob der Gast sein Bier bezahlen muss oder nicht. Es gibt also nichts zu verlieren. „Tail“ meint den Schwanz des Kängurus auf der Rückseite früherer Münzen. Praktisch wie die Australier sind, wird jedoch kein Dollar geworfen, sondern ein Würfel mit jeweils drei „T“s und „H“s. Das geht schneller. Die Monatsbilanz von Familienvater Robert liegt mit zehn kostenlosen von zwölf Bieren deutlich im Bereich des statistisch Unmöglichen. Er beklagt, dass das Spiel nur eine Stunde dauert und er in dieser Zeit nicht mehr als drei Biere hinunter bekommt.

Die meisten Gäste sind so besoffen, dass mir klar ist, warum nach jeder Bestellung gleich abkassiert wird. Das spart langwierige Diskussionen am Ende des Abends – und jeder Trinker weiß ständig, über wie viel Geld er noch verfügt. Volle Kostenkontrolle also, denn das Restgeld liegt offen auf dem Tresen. Sobald sich der 360 Milliliter-Schooner oder die Flasche dem Ende zuneigen, bringt die Barmaid Nachschub und nimmt sich das Geld vom Stapel. Sollten irgendwann die Mittel ausgehen, muss keiner verdursten. Anschreiben ist allerdings gesetzlich verboten, und bei den alkoholgeschädigten Kurzzeitgedächtnissen kommt auch kein Wirt auf die Idee, Kredit zu geben – die Lösung ist verblüffend einfach: Der Geldautomat befindet sich gleich in der Kneipe. Der Gast muss sich nur noch an seine Geheimzahl erinnern, um flüssig zu bleiben.

Oft ist Bier ohnehin gleich Ersatzwährung. Begradigt Andie mit seinem Bagger die Einfahrt des Nachbarn oder hievt das Auto eines Farmers aus dem Straßengraben – gefragt wird einfach: „Welche Sorte möchtest du?“ 20 Minuten später steht ein Karton „Hahn light“ als Dankeschön auf dem Tisch, den er meist gar nicht anrührt. Damit kann Andie nämlich die Jungs von den Stadtwerken besänftigen, wenn er mit dem Bagger wieder mal ein Wasserrohr zerschlagen hat.

Australier bleiben ihrem Bier treu. Andie trinkt ausschließlich Hahn light, Martin schwört auf Hahn Premium, und Robert und Bill kippen sich nur Victoria Bitter, kurz VB genannt, hinter die Binde – das einzig Positive, das der ungeliebte Nachbarstaat Victoria hervorgebracht habe, sagen sie. Die richtige Sorte verteidigen sie so vehement wie die Lieblingsrugbymannschaft. Bloß eins ist beim Bier noch wichtiger: die korrekte Kühlung, besser gesagt: Tief-Kühlung. Die passende Temperatur können Gäste in der Kneipe voraussetzen; zu Hause müssen sie selbst dafür sorgen. Denn eine Flasche, die einen Kühlschrank nicht für mehrere Stunden von innen gesehen hat, ist eine Plörre. Bei vielen steht daher im Kühlschrank ausschließlich Bier. Das erste, woran die Jungs in unserem Bauarbeitercamp morgens denken, ist Bier. Nein, nicht, dass sie auf nüchternen Magen gleich einen trinken – sehr vorausschauend und nahezu liebevoll stellen sie ihr six-pack kalt. Der erste Handgriff nach Feierabend geht dann aber sofort zur Flasche – praktischerweise können sie den Verschluss rasch aufschrauben, ohne lange einen Öffner suchen zu müssen. Erst nach einem tiefen Schluck wird der Helm abgelegt und die Arbeitszeit in die Liste eingetragen. Danach trinken sie ununterbrochen; bis sie ins Bett fallen. Tagsüber, beim Arbeiten, bleiben sie jedoch trocken – wahrscheinlich der einzige Grund dafür, dass sie noch am Leben sind.

Damit die Lokalgäste nicht selbst fahren müssen, werden die Pubs ab 22 Uhr verpflichtet, einen „Courtesy-Bus“ bereitzuhalten, um die Leute Heim zu bringen. Natürlich holt Jimmy die Gäste auch gern zu Hause ab. Trotzdem wurden Robert und Bill bereits fünf Mal beim „Drink-Driving“ erwischt – so blöd ist man wahrscheinlich nur mit Alkohol im Blut. Für den Fall, dass sie das halbe Dutzend vollmachen, müssen sie ins Gefängnis – die Richter haben sie vorsorglich bereits zu je einem halben Jahr Knast verurteilt, wie sie mir mit einer Mischung aus Furcht und Stolz erläutern.

In den Kneipen wird der Konsum vor allem durch die Methode angeheizt, sich gegenseitig Runden zu geben. Niemand zahlt nur für sich, sondern immer auch für seine Begleiter. Sobald der erste sein Glas geleert hat, wird neu geordert – selbst wenn die Freunde noch gar nicht ausgetrunken haben. Rollt das frisch Gezapfte an, schütten sie schnell den Rest hinunter. Andererseits achten diejenigen, die gerade gezahlt haben, genau darauf, dass die anderen schnell ihre Schuld einlösen und zum Tresen laufen: „It‘s your shout, mate!“ Am Ende des Abends wird solange gebechert, bis alle quitt sind. Und während sie schon fast aus der Tür raus sind, fällt ihnen ein, dass sie noch „one for the road“ trinken könnten. Die neue Runde endet natürlich erst, wenn jeder wieder dran gewesen ist, also „four for the road.“

Dieses Bezahlprinzip läuft vor allem deswegen so gut, weil es in den Kneipen von New South Wales keine größeren Gläser gibt. Jimmy berichtet, dass die Halbliter großen Pints abgeschafft wurden – eigentlich mit dem Ziel, die Leute nicht zum Saufen zu verleiten. Alles Quatsch, genauso wie die riesigen, staatlich verordneten Warnschilder, die in den Pubs hängen und ungezähmten Alkoholkonsum verhindern sollen. Die zentrale Botschaft der Plakate lautet „Wir verkaufen nichts an Betrunkene.“

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Dank Andie ist die Verpflegung ausgezeichnet. Er ist Hobbykoch und serviert seinen Leuten jeden Abend gut-bürgerliches Essen: gefüllte Paprikaschoten, echte Ochsenschwanzsuppe oder Kartoffelauflauf. Obwohl alle seine kulinarischen Künste in höchsten Tönen loben, schütten sich die Arbeiter durchaus Ketchup auf die Roulade. Linsensuppe kann auch mit der Gabel gegessen werden – den rückhandartigen Griff, das Besteck zu halten, werde ich frühestens am Ende meines Aufenthalts beherrschen. Sollte von der Suppe etwas übrigbleiben, schmieren sie sie sich am nächsten Morgen aufs Brot und packen den Fladen für eine Minute in die Mikrowelle.

Völlig andere gastronomische Welten eröffnen sich im anderthalb Stunden entfernten Griffith, in das Andie, Martin und ich einen Tagesausflug machen. Es ist eine von Italienern dominierte 30.000-Einwohnerstadt. Große, hügelige Weinanbaugebiete sorgen für angemessene mediterrane Stimmung und exzellenten Wein. In dutzenden Pizzerias, Restaurants und Straßencafés lassen sich bei Carpaccio und Café Latte das raue Outback für ein paar Stunden vergessen.

Wieder in Lake Cargelligo, dessen zweiter Wortbestandteil sich lediglich italienisch anhört, erlebe ich dagegen den kulinarischen Tiefpunkt der Woche: Eine komplett verkohlte Toastbrotscheibe, die ich bereits in den Mülleimer geschmissen hatte, wird von allen Leuten als „absolut verzehrbar“ eingestuft und anstandslos aufgegessen. Sie und ich schauen uns gleichermaßen fassungslos an.

Trotz des großen Einflusses italienischer Einwanderer – aus dem Fluss bei Griffith wurden angeblich auch mal Leichen mit einbetonierten Füßen rausgeholt –, ist Australien offenbar das einzige Land der Welt, in dem man zum Spaghettiessen ein Messer benötigt.

Doch auch ich benehme mich für australische Gaumen wohl sehr sonderbar. Sechs Wochen, nachdem ich die Linsensuppe mit Essig verfeinert habe, wird mir diese Verfehlung immer noch als „abartig“ vorgehalten. Ich habe nämlich eine geschmackliche Grundsatzdiskussion vom Zaun gebrochen, als ich zum gebratenen Schweinefleisch Worcestersauce aus dem Regal nahm. Obwohl meine Kollegen sonst jedes Essen mit artfremden Soßen zuschütten, riskiere ich einen Feldverweis: Beim T-Bone Steak vom Rind gehöre Worcestersauce natürlich dazu, aber doch nicht bei pork chops – da schmiere man Apfelmus rauf.

[caption id="attachment_1126" align="aligncenter" width="1000"]Mit dem See hat Lake Cargelligo eine seltene Attraktion zu bieten - doch leider war ich im Winter da. Mit dem See hat Lake Cargelligo eine seltene Attraktion zu bieten - doch leider war ich im Winter da.[/caption]

Seit 1898 sorgt das Royal Mail Hotel für Bier und billige Unterkunft – und innerhalb eines Jahrhunderts scheint sich auch an Einrichtung und Komfort nicht viel verändert zu haben. Das Gestell meines Betts ist völlig hinüber; bis zum Fußboden hängt die Matratze durch. Ich versinke, finde keinen Halt und schwimme durch die Nacht. Am nächsten Morgen schmerzen meine Glieder, nur mit Mühe komme ich wieder auf die Beine. Ich bitte um ein neues Zimmer.

Erschöpft werfe ich mich am Abend in meine neue Schlafstatt – und falle erneut tief: Sie ist genauso butterweich. Doch wozu arbeite ich in einer Baufirma? Weil ich mich nicht durch alle Hotelbetten schlafen möchte, säge ich mir auf der Baustelle ein großes Brett zurecht und schiebe es unter die Matratze.

Die Tür meines fensterlosen Zimmers führt zur Saloon-artigen Terrasse; leider hat sie einen riesigen Spalt: für den Sommer eine praktische Belüftungsmethode, jedoch nicht, wenn nachts die Temperatur unter null Grad sinkt. Es ist frostig, aber weder die elektrische Wärmedecke noch die Heizsonne an der Wand funktionieren. Um mich bei einer heißen Dusche aufzuwärmen, zittere ich mich über die Hinterhofterrasse. Auch dort scheint die Elektrik nicht zu arbeiten, die Lampe bleibt dunkel. Aber für 50 Dollar die Woche will ich nicht meckern, allein eine Nacht im benachbarten Motel kostet schon 70 Dollar. Ich dusche mit Taschenlampe, und einen Heizlüfter bringe ich mir aus der Firma mit.

Innerhalb von elf Wochen wechselt das Zimmermädchen mein Hotelhandtuch kein einziges Mal. Zum Glück finde ich den Lagerraum und versorge mich selbst. Von der Existenz der Hotelkraft erfahre ich ohnehin nur dadurch, dass sie mir täglich die Bettdecken unter der Matratze festklemmt, ja förmlich festschweißt. Beim Herausreißen kugle ich mir fast die Arme aus. Dass mein Bettzeug ebenso selten wie das Handtuch ausgetauscht wird – macht nichts: Die Kälte zwingt mich ohnehin, im eigenen Schlafsack zu schlafen.

Nachts schließt Jimmy den Haupteingang ab. Ins Hotel gelange ich nur noch über den Hinterhof – wo jedoch sein Blue Heeler wacht, eine gnadenlose Hunderasse, wie ich erst später erfahre. Als empfange er einen Einbrecher, rennt er mir zähnefletschend entgegen. Anfangs schützt mich die kurze Eisenkette, die ihn an der Hundehütte hält, später macht Jimmy ihn aber an einem Drahtseil fest, das sich quer über den Hof spannt. Dabei ist der Kampfhund noch erträglich, mit der Zeit scheint er sich an mich zu gewöhnen. Aggressiver ist sein Kompagnon, ein kläffendes Schoßhündchen, das den Blue Heeler, der meist meine Ankunft verschläft, aufweckt. Zornig beißt mir das Wollknäuel in die Fersen oder springt an mir hoch, als fordere er von seinem Freund, endlich zuzuschnappen. Der legt sich jedoch faul auf den Rücken und lässt sich streicheln. Schließlich gibt es in dem Hotel nichts zu holen.

Am vorletzten Tag meines Aufenthalts brennt die funzelige Deckenlampe durch. Doch da es wohl zu schwierig ist, die Glühbirne auszuwechseln, quartiert mich Jimmy gleich um. Offenbar will er mir kurz vor der Abreise mal was Gutes tun. In dem tadellosen Bett des unerwartet großzügigen und hellen Nachbarzimmers hätte ich sicher ein paar angenehmere Monate verbracht.

Die Gäste stehen Schlange, um sich am Feuer aufzuwärmen. Frost steckt ihnen in den Gliedern, zitternd hüpfen sie von einem Fuß auf den andern: Halb Lake Cargelligo taut im Royal Mail Hotel auf; und der lodernde Kamin macht den Pub zur gemütlichen Stube. Einige Kunden scheinen hier zu wohnen und am Tresen festgewachsen zu sein; längst geschiedene Eheleute teilen wieder den Tisch.

Der Pub ist mit allem ausgestattet, was eine australische Kneipe braucht: mehrere Fernsehgeräte an der Decke, eine Spielautomaten-Abteilung und Dart-Ecke, eine Australienkarte an der Wand und vergilbte Gruppenfotos der örtlichen Rugbymannschaft The Tigers. Allein die Öffnungszeiten und der Takt der Besucher sind mir ein Rätsel. An manchen Freitagen – welch Wunder – ist das Lokal brechend voll, eine Woche darauf langweilen sich nicht mal zehn Leute an der Theke. Ein voller Freitag garantiert keinen bombigen Sonnabend – der ohnehin der Wochentag zu sein scheint, an dem am wenigsten los ist, so dass Jimmy, der Kneipenbesitzer, am frühesten schließt, meist um 22 Uhr. Trotzdem schenkt er uns fünf Minuten, bevor er uns rausschmeißt, noch Bier aus. Mitten in der Woche tobt dann unvermittelt bis Mitternacht das Leben. Länger geht es nie, denn dann ist Sperrstunde. Obwohl ich selten im Gastraum bin, weiß ich genau, was sich dort abspielt, denn mein Bett befindet sich direkt über der Kneipe.

Das Wichtigste im Pub, sonst würde das Geschäft nur halb so gut laufen, ist allerdings die Bedienung, die Barmaids. Schließlich ist es Andie, Robert und Martin – Bill ist der Pub zu teuer – nicht egal, wer ihr Bier serviert. Jeden Abend fragen sie sich in ihrem Camp: Wer hat wohl heute Dienst? Bei Jimmy stehen nur Frauen hinter der Theke, denn es hebt den Umsatz deutlich, wenn die Stammzecher verfolgen können, wie sich die Mädchen nach einer Bierflasche aus dem Kühlschrank bücken. Zur besseren Unterscheidung bekommt jede von uns ihren Spitznamen:

Die Dyke heißt so, weil sie die anderen mit ihrem kantigen Gesicht und kurzen Haaren an eine spröde Lesbe erinnert. Dabei hat sie bereits ein Kind. Hauptberuflich arbeitet sie im Supermarkt.

Die German wollte am ersten Abend von mir wissen, was „How are you going?“ auf Deutsch heißt. Seitdem begrüßt sie mich mit einem fröhlichen und akzentfreien „Wie geht es dir?“ und sagt „Danke“. Als ich ihr einmal nach Ausschankschluss „Good bye“ übersetzen sollte, wusste ich, dass ich lieber das Feld räume. Sie ist die Netteste von allen – eigentlich sogar die einzige Nette.

Das Model ist einfach nur schlank, hübsch und natürlich arrogant. Mehr erfahren wir nicht über sie, denn sie tut nur das nötigste und ist nicht sehr gesprächig.

Heidi ist Heidi, früher hieß sie Heinz (Tochter vom deutschstämmigen BP-Tankwart). Jetzt ist sie verheiratet und hat zwei Kinder. Trotzdem meint Andie, der doppelt so alt ist wie sie, bei ihr landen zu können. Sie ist der Hauptgrund, weswegen er in die Kneipe geht. So hat sich das Jimmy auch gedacht.

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Deutschland ist bürokratisch? Beim Regulieren scheint Australien gründlicher vorzugehen als wir. Nichts ist mehr zu spüren von gesetzloser Buschromantik, wo jeder machen kann, was er will. Für jeden Handgriff brauchen die Arbeiter ein spezielles Zertifikat, schimpfen Australiens Unternehmer. „Ticket“ ist das wichtigste Schlagwort auf den Baustellen des fünften Kontinents geworden.

Andies Baufirma GBC Civil PTY Ltd. vergräbt am Rande des Outbacks mit vier Mitarbeitern eine Wasser-Pipeline – vom Stausee zum Wasserturm und dann zu den Hausanschlüssen. Reißt er beim Rohrverlegen eine Straße auf oder verengt für einige Stunden eine Kreuzung, kann der Verkehr nur einspurig fließen – falls es Verkehr gäbe: Selbst wenn nur zwei Autos pro Stunde die Staubpiste passieren, müssen wir alle an einem staatlichen Traffic-Control-Seminar teilnehmen, im Wesentlichen um zu wissen, wie wir ein Stop-and-Slow-Schild korrekt halten.

Die polizeiähnliche Aufsichtsbehörde WorkCover hat solche und andere Arbeitsschutzvorschriften deutlich verschärft. Drastische Strafen, die eine Firma schnell ruinieren können, sollen helfen, „die sichersten Arbeitsplätze der Welt zu schaffen“. Denn in der Vergangenheit ging es auf den Baustellen ähnlich locker zu wie am Bondi Beach. Folge: zu viele Arbeitsunfälle. Das soll sich nun ändern. Mitverantwortlich für die aktuelle Verordnungswut – über die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen stöhnen – ist die oft fehlende Berufsausbildung. Gerade auf dem Bau sind häufig Quereinsteiger, Hilfsarbeiter und Tagelöhner tätig. Das Wissen, das in Deutschland während der Lehre vermittelt wird, muss man sich in Australien durch Extra-Kurse aneignen. Einen weiteren Grund für die Regulierungslawine sieht Andie in der aus den USA kommenden Praxis, sich bei Unfällen teuer zu verklagen. Man glaubt, sich durch vorgeschriebene Schulungen und Lizenzen, die tickets, dagegen abzusichern.

Der gut gemeinte Sicherheitswahn treibt seltsame Blüten: Als einer von vier Angestellten in Andies Outback-Firma kümmert sich Martin ausschließlich um Arbeitsschutz und das Einhalten von Vorschriften. Er ist der obligatorische Safety Officer. Zu seinen Aufgaben gehört vor allem das ständige Kontrollieren, ob alle die orangefarbene Signalweste und den Helm tragen. Das wird auch dann verlangt, wenn die Angestellten – fern von allen Baumaschinen – mitten auf freiem Feld mal eine Kiste aus dem Auto laden. Es könnte ja ein WorkCover-Kontrolleur aufkreuzen, und die Angst vor den Beamten steckt allen in den Gliedern. Martins Lieblingsbeschäftigung – und ebenfalls zwingend staatlich vorgeschrieben – ist es, einen Versammlungspunkt einzurichten, an dem sich die vier Bauleute nach einem Unglück treffen sollen. Diesen Fluchtpunkt symbolisiert eine in den Boden getriebene Eisenstange mit einem Kegel als Signalspitze. Wird die Pipeline mehrere hundert Meter am Tag vorangetrieben, wandert der Versammlungsort ständig mit. Natürlich muss er weit genug von der potenziellen Unglücksstelle entfernt sein: Wenn links und rechts der Trasse eine ausgedehnte morastige Wiese liegt, dann muss es genau dort sein – auch wenn die Flüchtenden eine Machete bräuchten, um durch das hohe Gras zum rettenden Ziel zu gelangen. Es sollen schon mehr Bauleute durch Schlangenbisse am Versammlungsort umgekommen sein, als durch einen Unfall.

Um ein Baufahrzeug zu führen, benötigen die Arbeiter eine Extra-Genehmigung – der normale Lkw-Führerschein reicht nicht aus. Darf jemand einen Bagger fahren, gilt dies nicht automatisch für die Planierraupe. Jedes einzelne Ticket muss Robert ständig am Mann tragen, das Portemonnaie ist so dick, als habe er alle gängigen Kreditkarten bei sich. Die Schulung müssen sie regelmäßig wiederholen, worüber sich natürlich die Anbieter entsprechender, kostenpflichtiger Kurse freuen. Oft finden diese Seminare in einem gesichtslosen Gewerbebau im nächsten Ort statt, manchmal aber auch in Andies Wagenburg am Lagerfeuer.

Die Hände reiben sich auch die Elektriker, die aufgrund eines Gesetzes kaum noch mit der Arbeit hinterherkommen: Alle elektrischen Geräte auf dem Gelände einer Firma müssen monatlich überprüft werden. In Deutschland ist das nur einmal im Jahr nötig. Das betrifft nicht nur Bohrmaschine oder Kreissäge, sondern in Andies Fall auch alle Apparate in der Unterkunft der Bauarbeiter. Folglich müssen die vier Kühlschränke abgenommen werden, aber auch der Fernseher, der Toaster, die Mikrowelle und der viel benutzte, natürlich elektrische Grill. Insgesamt schaut sich der Elektriker 17 Haushaltsgeräte an, wobei er nur kurz überprüft, ob das Kabel noch in Ordnung ist. Allein das „TÜV-Schild“, das jeden Netzstecker verunziert, kostet einen australischen Dollar. Der Elektriker erhält für seine Arbeit 100 Dollar (etwa 70 Euro) – schnell verdientes Geld.

Martin Prellberg, Dozent und Prüfer für Arbeitsschutz, hat ebenfalls viel zu tun. Er leitet das berüchtigte OHS-Training, Occupational Health and Safety. Ohne den erfolgreichen Abschluss seines Arbeitsschutzkurses darf keiner den Finger krumm machen – egal ob Baggerfahrer, selbstständiger Maler oder Verkäuferin im Baumarkt. Prellberg führt auch durch unser eintägiges Traffic-Control-Seminar – vorgeschrieben von der Roads and Traffic Authority (RTA) des Bundesstaats New South Wales. Zunächst gibt der staatlich vereidigte Dozent einen Überblick über die wichtigen Utensilien: das Stop-and-Slow-Schild, die grelle, reflektierende Schutzweste und ein Walkie-Talkie zum Kommunizieren mit dem Kollegen. Obligatorisch – und dem theoretischen australischen Klima geschuldet – sind Kopfbedeckung, Sonnenbrille, langärmeliges Oberteil, lange Hosen, sicheres Schuhwerk und Sonnencreme mit Sonnenschutzfaktor von über 30. Zudem müssen je ein Logo des Arbeitgebers und der RTA auf dem Oberteil des Verkehrskontrolleurs prangen. Beispielfilme und Grafiken erläutern die Rechte, Vorschriften, Handzeichen und korrekten Prozeduren einzig und allein dafür, wie wir an einer auf eine Spur verengten Straße ein Auto stoppen und nach einiger Zeit weiterfahren lassen.

Fast den halben Tag verbringen wir Seminarteilnehmer allerdings mit Bürokratie, die Zettelwirtschaft ist so aufwändig, als beantragten wir eine neue Staatsbürgerschaft: Zuerst füllen wir ein Formular aus, das die Frage beantwortet, ob wir zu Hause eine andere Sprache als Englisch sprechen: „Arabisch, Kantonesisch, Hindi oder Tagalog?“ Deutsch gilt hier als ausgestorben und ist nicht vorgesehen. Dann tragen wir uns in eine Teilnehmerliste ein, auf die eine separate Namens- und Unterschriftenliste folgt. Schließlich gibt der Prüfer das RTA-Antragsformular für die Lizenz herum. Anschließend markieren wir einen DIN-A4-Zettel mit unserer Registriernummer und unterschreiben großformatig. Als kämen wir in eine Straftäterkartei, halten wir das Blatt vor unsere Körper und werden zur Identifizierung fotografiert. Weiterhin reicht der Dozent ein Antragsformular des halbstaatlichen Veranstalters zur Teilnahme an dem Kurs aus, bevor wir eine Stellungnahme zum Abschluss des Seminars ausfüllen müssen. Später erhalten wir alle ein Traffic-Control-Logbuch, das wir künftig bei uns führen und in dem wir alle Einsätze dokumentieren müssen. Dort trägt jeder seinen Namen und die offizielle Registriernummer ein. Am Ende bittet der Dozent um eine schriftliche Einschätzung seiner Arbeit.

Die Prüfung des gelernten Stoffs ist völlige Nebensache: Der Test besteht aus einem Dutzend einfacher Fragen nach dem Multiple-Choice-Verfahren; Abschauen beim Nachbarn und Vorsagen des Prüfers inklusive.

Nach meiner "Working Experience" bin ich zum Uluru, nach Darwin und Queensland gefahren. Am Strand dort hat unser Guide den Bus abgewürgt - und dann kam die Flut.

Dieses Abenteuer und andere Erlebnisse stehen in meinem Buch: "Victoria Bitter: Geschichten aus dem australischen Winter."