5. August 2015: Malge/Breitlingsee >> Brandenburg >> zurück. Spät starten wir zu unserer Tagestour, es ist schon halb drei. Allerdings wollen wir nur auf Spazierfahrt, einfach gucken, wo es uns hintreibt. Die Stadt Brandenburg ist in der Nähe und schon seit Langem wollte ich durch die Kanäle fahren, die grachtenähnlich ihr Zentrum durchziehen. Wie weit ist es bis dahin? Mit einer ordentlichen Karte sind wir zwar ausgerüstet. Doch trotz 20 Jahren Paddelerfahrung haben wir immer noch kein Gefühl dafür, mit welcher Geschwindigkeit wir unterwegs sind. Dass wir auch längere Strecken schaffen, wissen wir. Also los!

Geradezu muss irgendwo die Havel sein.
Geradezu muss irgendwo die Havel sein.

Das Handy zeigt 34 Grad. Ich habe mich eingecremt und gewissenhaft eingepackt: Mein Haupt bedecke ich mit einem praktischen, orientalischen Tuch. Bei einigen Wassersportfreunden wirft dies Verwunderung hervor. Später ruft uns einer zu, dass Arafat doch schon lange tot sei. Egal, ich kann damit Kopf und Nacken gleichermaßen schützen.

In dem Moment, wo wir uns vom Ufer abgestoßen haben, sind wir komplett geerdet. Vielleicht ein schiefes Bild, aber uns geht es jetzt bestens. Wir kennen dieses Wohlgefühl, das sich sofort einstellt: Wir haben die Welt auf dem Festland vergessen, gleiten dahin, lassen uns den Wind um die Nase wehen und uns von der Sonne braten. Heute paddele ich zusammen mit einem Freund, Steffen, und seinem blauen Faltboot RZ 85-3 in Richtung Havel. Das Gestell ist Original, die Haut nur ein paar Jahre alt.

Es sieht so aus, also sei es ein einziger riesiger See. Doch Inseln und Halbinseln formen aus dem großen Gewässer den Breitlingsee, Plauer See, Quenzsee, Wendsee und Möserschen See. Die Havel quert seine obere Hälfte. Wir müssen uns also erst einmal orientieren, die Buchten und die Kanincheninsel einordnen und einnorden. Wo ist nochmal die Einfahrt zur Havel? Geradezu erhebt sich das mächtige Stahlwerk weit über die Baumreihe hinaus. Es könnte perfekt als Wegmarke dienen, ist aber nicht auf der Karte verzeichnet. Eine Menge Boote müsste uns entgegenkommen, schließlich ist der Fluss eine Art Wasserautobahn – und damit theoretisch alles andere als geeignet für eine beschauliche Kanutour. Doch mit dem Lärm können wir inzwischen leben und außerdem gibt es genug Gewässer, wo Motorboote nicht hindürfen, nicht hinkönnen oder deren Besitzer nicht hinwollen.

Wir drehen die Karte, die Richtung stimmt. Wir werden die Mündung der Havel sicherlich bald sehen, oft sind Durchfahrten erst zu erkennen, wen man kurz davor ist.

Ein segelndes Paddelboot

Nach wenigen Minuten treffen wir zwei Kollegen, die ebenfalls im RZ 85 unterwegs sind, allerdings mit Segel. Wäre es nicht allein durch seine Konstruktion gespannt, es hinge heute schlaff an seinem besenstieldicken Mast. Schon immer hatte uns interessiert, wie das mit dem Segel funktioniert. Ich finde, Paddelboot plus Segel sind zwei Paar Schuhe. Doch für den RZ 85 ist es seit jeher ein beliebtes Zubehör. Dank der Flaute können wir die Jungs einholen und die Gerätschaft inspizieren.

Ein Segel am Faltboot: ziemlich unpraktisch, vor allem bei Flaute.
Ein Segel am Faltboot: ziemlich unpraktisch, vor allem bei Flaute.

Mir ist es ein Rätsel, wie man in einem schmächtigen Boot, das nur 85 Zentimeter schmal ist (deswegen heißt es RZ 85) und das nur aus ein paar Spannten und einer Textilhaut besteht, ein Segel handhaben kann? Zumal es direkt vor dem Vordermann, zwischen seinen Beinen, in den Rahmen gesteckt wird und der Großbaum auf ganzer Länge bis zum Hintermann reicht. Was passiert, wenn der Wind dreht und das Segel genau da hindurch möchte, wo der erste Mann sitzt? Er müsste sich permanent nach unten zwängen, um es durchzulassen oder das Konstrukt knallt gegen ihn. Und wie will er so eigentlich paddeln? Ok, paddeln muss er nicht, wenn der Wind bläst, doch halten muss er es trotzdem – und außerdem herrscht heute Windstille: Das Zubehör samt seitlichen Stabilisatoren, präsentiert sich in Ruheposition, und der Steuermann bestätigt uns, dass es entweder zu stark windet oder gar nicht. Gestern sei es heftig gewesen. Nettes Beiwerk also, aber wie erwartet unpraktisch und als Anschaffung, die oft durch unsere Köpfe geisterte und ein beliebtes Paddelgesprächsthema darstellt, abgehakt.

„Wie weit ist es denn bis Brandenburg?“, frage ich.

„Ihr schafft das in einer Stunde, locker!“

Er hatte uns kommen sehen und wird sich nicht irren.

Fähre an der Brandenburger Niederhavel.
Fähre an der Brandenburger Niederhavel.

Wir verabschieden uns und inzwischen haben wir den Ausgang der Niederen Havel erblickt. Er wird durch einen grün-weißen Leuchtturm aus Metall markiert, den wir genau in dem Moment erkennen, wo wir ihn zur Orientierung nicht mehr benötigen. Wir umfahren die Mole, auf beiden Seiten erstreckt sich Galeriewald, einige Datschen liegen versteckt im Hinterland. Am linken Ufer wartet eine urige Autofähre, eine Schwanenfamilie mit ihren fünf Jungen schwimmt zum See, und neben Kilometerschild 61 steht ein Reiher, immer wieder schön, aber hierzulande nichts Seltenes. Dann fährt uns gleich ein halbes Dutzend Motorboote entgegen. Sie scheinen aus einer gemeinsamen Schleusung zu stammen und die fünf, sechs Kilometer seit Brandenburg in synchronisierter Höchstgeschwindigkeit von sechs Kilometer pro Stunde zurückgelegt zu haben. Die gemieteten Hausboote und mittelgroßen privaten Motorschiffe machen zwar einige Wellen, aber lärmen und stören nicht so, wie kleine Kähne mit knatterndem Außenborder.

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Wir schauen in die grüne Wand aus Schilf und Bäumen und Himmel darüber und denken nicht daran, dass die Idylle nur eine Illusion ist. Dahinter liegen Siedlungen, Straßen und eben das Stahlwerk. Doch gerade die Mischung aus alter Industrie, verlassenen Orten, Zivilisation und Natur finde ich reizvoll.

„Sitzt mein Tuch richtig, Steffen?“

„Ja!“

„Wirklich?“ Ich werde zwar schnell und gerne braun, aber auch schnell und ungerne rot. Nur mein Kopfkino soll mich heute Nacht an unseren Ausflug erinnern.

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Nach einer knappen Dreiviertelstunde erreichen wir das Stadtgebiet: Brachflächen, alte Fabriken, bröckelnde Kaimauern, Brücken, Schornsteine und ein tolles Loft kommen in Sicht. Kleine Fähren, „Pusteblume“ und „Klatschmohn“, kutschieren Gäste der Bundesgartenschau über den Kanal. Der flache Backsteinbau linker Hand, schön saniert, weckt unser Interesse. Nicht aus dem Grund, von dem ich noch berichten werde. Sondern weil uns eine repräsentative Terrasse mit Loungesofas, Sonnenschirmen und einer Feuerschale geradezu einlädt, dort, an einem extra Steg, Halt zu machen. Eine Fahne mit einem für uns nicht erkennbaren Schriftzug flattert im Wind. Sonnenseite und perfekt für einen Nachmittagskaffee und ein kühles Getränk! Das Lokal könnte in Berlin Mitte nicht schöner liegen, schließlich macht die Havel mehr her als die Spree. Doch wir sind erst eine Stunde unterwegs, außerdem haben wir selbst kaltes Bier dabei. Auf dem Rückweg könnten wir einkehren. Komisch nur, dass keine Gäste da sind.

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Ich sitze in der ersten Reihe

Ich sitze heute vorne, was eine Premiere ist, da ich ein eigenes Boot habe und dort immer selbst steuere. Jetzt kann ich es genießen, einmal nicht in den Rücken meines Tourkameraden schauen zu müssen. Ich fotografiere, was vom Hinterplatz nur ginge, wenn man seitlich zum Fotomotiv steuert. Heute muss Steffen also mehr paddeln als ich. Ich halte unsere Reise für die Nachwelt fest. Dafür wird er mehr Bier trinken, was ebenfalls nur geht, wenn man die Paddel aus der Hand legt. Auf meinem Schoß liegt dagegen der exzellente Tourenatlas Wasserwandern.

Eingang zum Jakobsgraben: Eine großartige Mischung aus Stadt, alter Industrie und Natur.
Eingang zum Jakobsgraben: Eine großartige Mischung aus Stadt, alter Industrie und Natur.

Die verzweigten Kanäle der Stadt haben es mir angetan, teilweise sieht es aus wie Venedig. Schon seit Jahren wolle ich hier auf Entdeckungstour gehen! Gleich in den ersten Kanal, den Jakobsgraben, steuern wir hinein.

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Es ist, als zweige man von einer Einkaufsmeile in eine beschauliche Gasse ab. Hinter einem Knick reckt sich ein Backsteinschornstein zum Himmel, Bootsanleger säumen die Strecke, gegenüber liegen Brachland und aufgegebene Industrieanlagen. Steffen und ich haben denselben Gedanken: Anfang bis Mitte der 90er Jahre sind wir mit unserem Freundeskreis oft in alte Ostbetriebe zum Fotografieren und Erkunden eingestiegen. Häufig sah es so aus, als ob die Belegschaft von einem Tag auf den anderen nicht mehr wiedergekehrt ist. Die Maschinen standen bereit, die Schreibtische waren nicht aufgeräumt, Schränke waren randvoll mit Werkzeug und Büromaterial. Ein halbes Dutzend dieser Touren haben wir gemacht, von Berliner Hinterhofklitschen bis zu großen Industrieanlagen in Mecklenburg, immer mit Kribbeln im Bauch.

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Genau solche Fabriken passieren wir gerade, schönste Wasserlage, verlassen seit vermutlich zweieinhalb Jahrzehnten. Irgendwo liegen sicherlich noch ein alter FDGB-Ausweis in der Schublade und ein paar DDR-Devotionalien im Spind. Mit dem Auto könnten wir vielleicht später zurückkehren …

Wir fahren wie durch eine Schlucht. Im Schatten der Bäume und Häuser ist es angenehm warm, nicht so brütend heiß wie „draußen“. Wir gleiten an dem einzigen Café vorbei, an improvisierten Mini-Marinas mit verrosteten Slipanlagen und ausrangierten DDR-Kranautos, die die Boote ins Wasser hieven. Bei einem Motorbootskapitän vergewissern wir uns, ob wir richtig sind.

„Kommen wir hier weiter? Führt der Kanal bis in die Innenstadt?“

„Ja, ja, ihr kommt durch, da geht es einmal rum“, erwidert er mit dem überzeugten Tonfall, den nur Einheimische anschlagen können.

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Weiter geht es mit gedrosselter Kraft. Wir genießen die Ruhe und den Halbschatten, die kitschigen Stillleben von verrosteten Leitern, blauen Industrierohren und alten Reifen, an denen sich Boote abfedern können. Nach den Gästen im Café und dem Ortsunkundigen – wie sich später zeigen wird – begegnen wir niemandem mehr. Nur die Autos, die über das halbe Dutzend kleiner Brücken fahren, bedeuten uns, dass es noch ein Leben außerhalb unserer Blase gibt.

Mitten in der Stadt – und wir sind auf der richtigen Seite

Permanent knickt der Kanal ab, was uns neugierig macht auf das, was dahinter kommt: Backsteinmauern mit Patina, Seerosen, ein verträumter Steg und Fassaden, die sich im glatten Wasser spiegeln. Die tunnelartigen Unterseiten der Brücken geben uns, wie auf einem Foto, nur einen Ausschnitt der Idylle preis. Mit jedem Meter sehen wir mehr: ein Zwiebeltürmchen eines sanierten Hauses, zwei Plastikblumenkübel auf einem Privatsteg, eine merkwürdig gewundene 30er-Jahre Straßenlaterne auf einer Backsteinbrücke. Villen, Mietshäuser, Garagengrundstücke, wilde Natur. Die perfekte Erlebnismischung scheint parzelliert zu sein.

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Wir gleiten weiter und nähern uns dem Paradestück eines Hier-müssen-wir-mal-einsteigen-Gebäudes: eine verlassene, dreistöckige Fabrik mit langer Wasserfront. Abgestorbene Bäume mit kahlen Zweigen liegen davor, junge Triebe wachsen aus den Mauern. Die erste Fensterreihe ist vergittert (wegen solcher Leute wie uns), einige Scheiben sind zerstört (würden wir nie machen). Was sich wohl dahinter verbirgt? Eine Maschinenhalle, ein Stofflager, Umkleidekabinen, das Traditionskabinett der Betriebskampfgruppe? Drei Enten kommen uns entgegen und suchen Schutz hinter einem parkenden Motorboot.

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Wir müssen durch die Zweige einer Trauerweide hindurch. Der Kanal biegt leicht nach links und verläuft in einem sanften Bogen zurück. Die Karte stimmt. Wir unterqueren die Schnellstraße von Brandenburg, was die Romantik keineswegs stört, vielmehr verstärkt, weil wir uns auf der „richtigen Seite“ wähnen. Wieder geht es in einem 90-Gradabzweig nach links, nun paddeln wir parallel zur Magistrale und sind doch gefühlt in den Everglades (oder sehen die Everglades aus wie das hier?): verwunschene Natur, betagte Bäume, Rankenpflanzen hängen herab, gelbe Teichrosen recken sich empor. Links von uns rasen die Autos entlang, rechts liegt die Bahnstrecke nach Magdeburg, der Hauptbahnhof ist nahe. Wir gleiten unter drei Eisenbahnbrücken unterschiedlicher Epochen hindurch. Die letzte ist förmlich eine rohe Betonröhre, spendet aber den meisten Schatten. Hier teilt sich das Fließ. Dank der Karte wissen wir, dass Steffen sofort am Ende der Brücke sein Runder hart nach links einschlagen muss, um dem Jakobsgraben weiter zu folgen.

Gleich neben den Bahnanlagen ist es am ursprünglichsten, trotzdem sind wir mitten in der Stadt.
Gleich neben den Bahnanlagen ist es am ursprünglichsten, trotzdem sind wir mitten in der Stadt.

Dann sind wir im schönsten Teil der Strecke. Als die letzten Masten der Elektroleitungen der Bahn hinter den Bäumen verschwunden sind, schauen wir in einen grünen Tunnel. Beide Seiten sind zugewuchert, die dichten Baumwipfel haben sich hoch über unseren Köpfen verbunden und lassen keinen Sonnenstrahl hindurch, ein Blätterdach. Neben uns wartet ein alter Ostkahn auf seine letzte Fahrt, darüber thront ein prächtig-verzweigter Kletterbaum, ausladend bis zur gegenüberliegenden Seite. Schließlich erreichen wir das Wehr. Laut Karte und auch tatsächlich scheint hier Schluss zu sein. Wir könnten erkunden, ob es dahinter weitergeht und wir umtragen können. Doch wir möchten unsere Strecke noch einmal von der Rückseite sehen.

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Die Lichtverhältnisse sind nun anders, betörender. Wir schauen in einen Trichter mit allen Grüntönen der Natur. Ein diffuser, heller Schweif fällt durch die Baumkronen, der als Spiegelbild auf dem Wasser eine Linie zieht. Wir lassen uns von der leichten Strömung treiben.

Wir sind gleich hinterm Hauptbahnhof und doch meilenweit weg von der Zivilisation.
Wir sind gleich hinterm Hauptbahnhof und doch meilenweit weg von der Zivilisation.

Eine Sonnenuhr auf der Nordseite

Die meisten Motive sind fotografiert, ich kann mich zurücklehnen, doch Halt, diese prächtige Villa war vorhin gar nicht zu sehen! Ansonsten lasse ich die Kamera liegen und wir sinnieren über die Sonnenuhr an der Fassade eines Gründerzeithauses. Unserer Meinung nach Nordostseite. Noch nie hat sie wohl eine Stunde gezählt.

Auf der Havel setzten wir unsere Haupttour fort. Gegenüber flattern zwei Rewe-Fahnen im Wind: ein Supermarkt mit eigenem Bootsanleger. Aber bitte Parkuhr einstellen! Eine schöne Industrieruine mit kaputten Fenstern im Oberlicht lädt offiziell zum Einsteigen ein: „HIER im alten E-Werk können Sie sich verwirklichen! z.B. Jugendherberge, Musikschule, Markthalle“, preist ein Werbeschild an.

Drive-in einmal anders. "Parkuhr einstellen" nicht vergessen.
Drive-in einmal anders. „Parkuhr einstellen“ nicht vergessen.

Kurz darauf, nach einer geschwungenen „Rialto-Brücke“, erreichen wir die adrette Innenstadt. Es sind recht viele Besucher da, extra Boote bugsieren die Buga-Gäste zu den Parkanlagen am Fluss. Öffentliche Promenaden und große Betontreppen, die zum Wasser hinabführen, laden zum Hinsetzen ein. Allein, wir erblicken keine Anlegemöglichkeiten. Halten könnten wir. Aber wie machen wir das Boot an beiden Seiten fest, so dass es sich nicht in der Havel querstellt und die Buga-Fähren rammt. Wir werden sicherlich gleich etwas Passendes finden, beim Suchen zeigt sich Brandenburg von seiner schönsten Seite.

Im Stadtzentrum.
Im Stadtzentrum.

Fünf Minuten später, in einer ganz anderen Ecke, in der Näthewinde, finden wir einen beschaulichen „Wasserwanderrastplatz NUR für muskelbetriebene Boote.“ Hier sind wir richtig! Wir legen an, ich hieve mich aus dem Boot, rolle mich ab und komme gerade neben einem Kothaufen zum Stehen. Von welch einem Tier ist das denn? Wir halten uns nicht weiter mit der Erörterung auf. Ich bin froh, das verwunschene Plätzchen nicht verwünschen zu müssen. Wir zurren das Boot fest, nehmen unsere Rücksäcke und machen uns auf den Weg, ein Eiscafé zu suchen. So wie das Plätzchen aussieht, müsste hier auch gleich eins sein.

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Tatsächlich, ein paar Tische sind im Lokal daneben noch frei. Doch der Wirt weist uns sofort darauf hin, dass er in Kürze eine Geschlossene Gesellschaft hat. Eis hätte er in seinem Café sowieso nicht gehabt. „Aber wenn Sie Zeit haben, dann gehen sie doch zum …“ Wir haben aber keine Zeit, sondern müssen bald zurück. Ob wir wenigstens einen Kaffee bekommen könnten, gleich auf der anderen Seite des Spazierwegs sind zwei Holzliegen positioniert, da werden wir die Feiernden, die noch gar nicht zu sehen sind, für die nächste halbe Stunde bestimmt nicht stören. Ob er denn bitte noch einmal die Mattenaufsätze für die harten Liegen rausholen könne? Ohh, so etwas habe er gar nicht …

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Wir verabschieden uns rasch, bestaunen das spektakulär gelegene Hafenbecken am Ende des Kanals mit alten Fabriklofts und einen terrassenartigen Szenepark, den die Dorfjugend mit Sinn für die Sonnenseiten des Lebens besetzt hat. Sie kurven mit ihren BMX-Rädern rum, hören laut Musik, hängen ab, manche rauchen oder kiffen. Also alles völlig normal, doch wo bekommen wir einen Schwedeneisbecher her?

Eis im Steakhaus

Wir erreichen die Altstadt. Am Ende der gewundenen Gasse sehen wir Stühle und Tische in schönster Abendsonne. Das ist unser Platz!

Es entpuppt sich als Argentinisches Steakhaus, doch anders als der Wirt vom Kaffeegarten haben sie eine Eiskarte.

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Eine Stunde später machen wir uns auf den Rückweg und sehen, dass die Geschlossene Gesellschaft immer noch nicht eingetroffen ist. Ungern verlassen wir die Stadt, aber selbst der romantischste Sonnenuntergang in zwei Stunden wird unweigerlich die anschließende Dunkelheit ankünden. Wir stechen in See und streben zu unserem Ausgangspunkt zurück, da winkt uns von einem Laubenpiepergrundstück jemand zu und ruft Hallo. Es ist der Kollege vom Paddelsegelboot. Wir grüßen zurück.

Bootsbesitzer Steffen (hinten) und ich.
Bootsbesitzer Steffen (hinten) und ich.

Kurz darauf erreichen wir die Szene-Lounge-Ecke, perfekt zum Chillen nach einem harten Arbeitstag auf dem Wasser. Sie ist immer noch verwaist. Weder Gäste noch Bedienung oder ein Schild weisen auf eine angesagte Location hin – und auch kein „Privat“-Schild am Steg, das solche Missverständnisse aufklären könnte. In jedem Fall beneiden wir den Inhaber, in welcher Funktion er auch das Filetgrundstück besitzen mag.

Alle sind zuhause und wir haben die Havel für uns allein.
Alle sind zuhause und wir haben die Havel für uns allein.

Wir sind fast allein, das Wasser ist spiegelglatt. Die Sonne feuert immer noch herab, doch die Baumreihe spendet uns Schatten. Die Strecke zieht sich nun und fühlt sich doppelt so lang an wie am Nachmittag. Wir machen eine Pause, holen endlich unser kaltes Bier raus – und weil die Stimmung so schön ist und der letzte knatternde Hilfsmotor gerade hinter einer Biegung verschwunden ist, gleich ein weiteres – und lassen uns treiben. Es ist Sonntagsstimmung, doch eigentlich Mittwoch, muss ich mir immer wieder sagen.

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Bald haben wir Kraft für einen Zwischenspurt. Am Ausgang der Havel zum Breitlingsee erleben wir einen Sonnenuntergang, der als Gegenlichtaufnahme auf meinem Kamerabildschirm viel kitschiger als in echt aussieht. Hinterm Leuchtturm biegen wir zu unserem Zeltplatz ein.

Und dort sind wir am nächsten Tag langgepaddelt.