Wie Höcker schauen die grünen Inselchen aus dem Wasser. Fjorden gleich schneidet sich der See ins Land. Tagelang stoße ich auf meiner Tour an den in der Sonne glänzenden Kiwu, obwohl ich ihn oft woanders wähne. Allein einen Tag bin ich auf Serpentinen an seinem lieblichen Ufer entlanggefahren. Mann, muss der groß sein!

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Ist er aber gar nicht, der Kiwusee misst gerade einmal 89 Kilometer in seiner Ausdehnung. Recht beeindruckend zwar, doch er wirkt noch mächtiger, was wohl auch daran liegt, dass seine Uferlinie um so viel länger ist, weil sie permanent Haken schlägt, Haarnadelkurven einlegt, tiefe, verwinkelte Buchten bildet. Von den vorgelagerten Inseln ganz zu schweigen. Die tausend Hügel Ruandas formen nicht nur den Zick-Zack-Rahmen und die romantische Kulisse, sie scheinen sich im See fortzusetzen. Kuppen schauen vereinzelt heraus, als wären sie als Wahrzeichen des Landes immun gegen den Wasserspiegel.

Selbst Afrikaforscher waren betört

Schon unsere Vorfahren, die im Zuge der Kolonialisierung vor gut 100 Jahren Ruanda erforschten, kamen angesichts des Kiwusees ins Schwärmen. Johannes Milbraed, Botaniker und Teilnehmer einer großangelegten deutschen Forschungsexpedition unter Führung von Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg, schrieb 1907 über den 1.500 Meter hoch gelegenen See: „Als wir wieder einmal einen Hügel überschritten hatten, bot sich den erstaunten Augen ein Anblick, dass wir den Schritt hemmten, um zu schauen. Vor uns senkten sich die Bergrücken und Hügel allmählich tiefer hinab, um gegen den Horizont als Halbinseln hineinzuragen und als Inseln aufzusteigen aus einer in fahlem silbrigen Blau schimmernden Fläche, dem Juwel der afrikanischen Seen. Vielleicht mag der Tanganjika im Ganzen noch majestätischer sein, aber eine solche Vereinigung von Lieblichkeit und Größe, von stillen Buchten und tiefen Fjorden, von seligen Inseln und in die Wolken ragenden Gebirgen bietet wohl keiner wie der Kiwu.“

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Jeder der großen afrikanischen Seen hat seine Eigenheiten. Jeder ist der Schönste, und es stimmt, der Tanganjikasee wirkt erhabener, allein weil er 700 Kilometer lang ist und sich fast kerzengerade und ohne nennenswerte Inseln über die Landmasse legt. Der Kiwu mit seinem Achterbahn- und Kurven-Ufer, den anmutigen Hügeln und Eilanden, der hinter den unzähligen Biegungen auch einmal für eine halbe Stunde aus dem Blick des Betrachters entschwindet, erscheint wie eine Seenkette, wie eine Familie. Er verleitet mehr zum Träumen, Schwelgen und natürlich Reinspringen, während das Einzelkind Tanganjika einen innerlich fast strammstehen lässt. Witzigerweise wirkt der Kiwu deswegen umso größer, weil er so kleinteilig ist.

Blick auf Gisenyi/Rubavu; im Hintergrund die kongolesische Großstadt Goma.
Blick auf Gisenyi/Rubavu; im Hintergrund die kongolesische Großstadt Goma.

Wie der Tanganjikasee von Tansania aus gesehen, bildet der Kiwu in Ruanda ebenfalls die Grenze zur Demokratischen Republik Kongo. Von Gisenyi/Rubavu aus, wo ich drei Nächte Station mache, liegt die kongolesische Großstadt Goma nicht einmal einen Steinwurf entfernt. Es ist förmlich eine Doppelstadt, mit einer Grenze, die mitten hindurchgeht, besser gesagt, sind es zwei Städte, die vor 100 Jahren winzig und unbedeutend nun an der Grenzlinie zusammengewachsen sind. Die Bewohner können hin- und hergehen. Es gibt zwei Kontrollstationen, manche Straße endet im anderen Land. Die Mauer eines Nobelviertels ersetzt Grenzpolizisten, zwei Meter von mir entfernt lugt ein Turm eines Neureichenhauses in den kongolesischen Luftraum. Mir wird gesagt, dass dort ruandische Diamantenhändler wohnen. Weiter gehe ich nicht gen Westen und das nicht nur, weil das Visum mehr als 270 Dollar kosten soll.

Planespotting

Ein paar Mal am Tag starten und landen Flugzeuge in Goma, und zwar jeweils über den See hinaus. Ich bin kein Flugzeugfreak, doch noch nie habe ich so herrliche Landeanflüge gesehen. Nichts versperrt den Blick, und die asketisch-schöne Komposition lenkt auch nicht ab: Unten ist Wasser, oben ist Himmel, den Hintergrund bilden diesige, schroffe Gebirgshänge. Glücklicherweise hört man die sowjetischen Antonovs, Iljuschins und Tupolews, die das Rückgrat des kongolesischen Flugwesens ausmachen, schon von Weitem. Ich muss nur den weißen Punkt zwischen beiden Bergketten suchen und kann minutenlang das Einschweben verfolgen – am Besten von einem der Hügel Gisenyis aus mit dem sinnigen Namen Belvedere. Da bin ich fast auf Augenhöhe.

Blick auf Goma von Gisenyi/Rubavu aus.
Blick auf Goma von Gisenyi/Rubavu aus.

Im Internet schaue ich nach dem Flugplan von Goma. Das eben war Flug CAA 8526 aus dem nahen Bukavu. Die Fluggesellschaft Compagnie Africaine d’Aviation wirbt damit, nur Airbus und Fokker einzusetzen. Schade, leider kommt jetzt kurz nach 17 Uhr nichts mehr. Der Flugplatz verfügt natürlich über keine Befeuerung, und da es 18 Uhr dunkel wird und Flugzeuge sich auch einmal verspäten können, ist der Flugplan für heute abgehakt. Im Internet sehe ich auch, dass die Flugplätze Gomas und Gisenyis nahe beieinanderliegen wie zwei Landebahnen eines Flughafens, nur eben durch die Grenze getrennt.

Am Morgen, gleich nach der Dämmerung, weckt mich erneut Propellerlärm. Kurz hintereinander starten drei Maschinen in die Morgensonne, dann ist wieder Ruhe für einige Stunden. Für Planespotter, die neben der alten Technik vielleicht auch ein Faible für frische Natur haben, wäre es ein Paradies.

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Auch der Chef von Botaniker Milbraed, Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg, widmete sich ausführlich dem kolonialen Außenposten Gisenyi und dem Gewässer, das einst zur Hälfte Deutschland gehörte: „Das Klima Kissenyis ist vortrefflich, denn seine Höhenlage in 1500 m über dem Meere verbannt die erschlaffende Hitze. Die Kühle, die infolgedessen herrscht, macht den Aufenthalt zum denkbar angenehmsten. Wer das Glück hat, diesen Ort zum Wirkungskreise angewiesen zu erhalten, der hat das große Los gezogen. Vor sich die rauschende Brandung des schönsten aller zentralafrikanischen Seen, umrahmt von den schroffen Felsgebilden steil abfallender Ufer, im Rücken die stolzen Häupter der acht Virunga-Vulkane, die einer Kette gleich die Landschaft umschließen: Wahrhaftig, wer diesen Fleck Erde gesehen und noch dazu das Glück hatte, in glutroten Farben den nächtlichen Himmel vom Widerschein der Lava des tätigen Namlagira-Berges erleuchtet zu schauen, der hat eine Perle in den Schatz seiner Erinnerung eingefügt, die unveräußerlich ist fürs Leben.“

Grenze zum Kongo

Ich lese den pathetischen Bericht erst nach der Reise. Doch als hätte ich die überbordende Schönheit geahnt, habe ich gleich drei von neun Nächten meiner Tour durch Ruanda in Gisenyi gebucht. Ich werde nicht enttäuscht. So wie Mecklenburg und Milbraed es erlebten, sind Natur, Klima und Topografie noch immer – allein, zum Glück, die Lava fehlt. Sie hat übrigens beim Ausbruch im Jahr 2002 die Landebahn Gomas von 3000 auf 2000 Meter verkürzt – bis heute.

Ist es der nahe Vulkan Nyiragongo, der im kongolesischen Hinterland den Luftraum abriegelt, oder liegt dort hinten umkämpftes Rebellengebiet? Anders als üblich starten und landen die Flugzeuge ausschließlich auf einer Seite, nämlich über dem See, der besten Ein- und Ausflugschneise. Der legendäre Dschungel Kongos hätte es ebenfalls verdient, doch vielleicht möchten die Piloten ihren Passagieren besonders reizvolle An- und Abflüge bieten.

Park und Badestelle in Gisenyi/Rubavu.
Park und Badestelle in Gisenyi/Rubavu.

Nicht auszudenken, hätte Herzog zu Mecklenburg den See auch noch aus der Vogelperspektive genossen. Schon so konnte er seine Begeisterung kaum zurückhalten: „Als wir ihn zum ersten Male sahen, auf unserem Wege nach Ischangi, nach anstrengenden Märschen durch Ruanda und den Rugege-Wald, schlug uns das Herz vor Freude. Der Blick auf eine große Wasserfläche nach lange währenden Land- und Fußreisen hat seit Xenophons Zeiten immer etwas Befreiendes gehabt, und ein wenig von dem frohen Gefühl, das die zehntausend Griechen in das ‚Thalatta, Thalatta‘ einstimmen ließ, verspürten auch wir, als der Kiwu aus der Ferne zu uns herüber winkte. Der Ruf seiner großen landschaftlichen Schönheit und seines ausgezeichneten Klimas war uns allen bekannt aus den begeisterten Schilderungen Kandts und den Erzählungen deutscher Offiziere. Seit Wochen sprachen und träumten wir von ihm, dem ersten wichtigen Ziel unserer Reise, von dem jeder unter uns wissenschaftliche Überraschungen erhoffte. Was wir zunächst von ihm erblickten, war die größte seiner zahlreichen östlichen Buchten, die von Kandt den Namen ‚Mecklenburg-Bucht‘ erhielt. Hohe, von sanft gerundeten Kuppen, und Hügeln gebildete Ufer umrahmen sie, bedeckt mit grünen Bananenhainen, Erbsen- und Bohnenfeldern, die Zeugnis ablegen von dem Fleiß der hier dicht gedrängt sitzenden Wahutu-Bevölkerung. Leichter Nebel wogte über der Oberfläche des Sees und verbarg die entfernter liegenden Inseln und Ufer dem suchenden Auge. Der Sonne Strahlen funkelten stellenweise auf den schwach bewegten Wellen, und das Rosenrot des Morgenhimmels, das frische Grün der Uferhügel und das smaragdfarbige Wasser vereinen sich zu einem lieblichen Bilde.“