Wir starten die Wanderung gegen 8 Uhr in einer Siedlung. Die Buckelpiste hat uns einen erfreulich wilden Vorgeschmack darauf gegeben, dass wir nach all den vorbildlichen Straßenbaumaßnahmen nun wieder naturbelassenes Gebiet Ruandas betreten. Majestätisch liegen die Berge um uns herum. Der Himmel ist immer noch klar. Nur ein paar Wolken haben sich um die Spitzen des erloschenen Sabinjo-Vulkans gelegt, der wegen seiner abgestuften Zacken den lokalen Beinamen „Zähne des alten Mannes“ trägt. Es ist der Berg, an dem Beringe die Berggorillas „entdeckte“, an seinem Sockel werden wir unsere Hirwa-Gruppe besuchen.

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Die Träger erwarten uns bereits. Ich engagiere einen, er heißt tatsächlich James, für meinen Rucksack. Die Männer kommen aus der Siedlung und sind Teil der Idee, die Bevölkerung am Gorillatourismus zu beteiligen – neben Führern, Trackern und Soldaten, die uns ebenfalls begleiten und uns vor im Park lebenden Büffeln schützen sollen. Es ist also ausdrücklich erwünscht und keineswegs uncool, die Einheimischen anzuheuern, um ihnen so ein Zubrot zu verschaffen.

Unterhalb des Sabinjo-Vulkans hält sich unsere Hirwa-Gruppe auf.
Unterhalb des Sabinjo-Vulkans hält sich unsere Hirwa-Gruppe auf.

Wir ziehen los, es geht steil nach oben, vorbei an Hütten, an Feldern entlang, auf denen Bananen und Kartoffeln stehen. Bis an den Rand des Nationalparks ist das Land eng bebaut und bepflanzt. Das dicht besiedelte Ruanda braucht jeden Quadratmeter Boden, sodass vor einigen Jahrzehnten das Schutzgebiet drastisch geschrumpft wurde.

Ich mache bald schlapp

Ich keuche und hechele hinterher. Altersmäßig bin ich im unteren Mittelfeld der Gruppe, vier Leute sind älter, zwei jünger, aber Schritt halten kann ich nicht. Nicht mein dickes Knie macht mir zu schaffen, bewegungstechnisch läuft alles fabelhaft. Auch dass ich gestern in üppigen Portionen die heimische Küche genossen habe – zum Mittag Fleischspieß mit Rind, Pommes und Salat und am Abend das gleiche nur mit Ziegenfleisch –, ist nicht der Grund für meine Langsamkeit. Ich bin die Höhe nicht gewohnt. Gnädig stoppen die anderen alle 20 Minuten, um auf mich zu warten. Nach zwei Minuten ist mein Puls wieder okay, ich trinke etwas, wir können weiterziehen. Bis ich erneut zurückfalle. Nicht auszudenken, wenn ich noch meinen Rucksack mit Wasserflaschen und Proviant schleppen müsste. Es geht. Aber ich war in jedem Fall sehr blauäugig, meine Ruandatour mit einem zünftigen Aufstieg zu beginnen, statt meinen Körper erst einmal mit der Höhe vertraut zu machen.

Es war keine gute Idee, sofort auf 2.600 Höhe zu klettern ...
Es war keine gute Idee, sofort auf 2.600 Höhe zu klettern …

Jeder von uns hat einen Wanderstock erhalten, der Untergrund ist glitschig, oft müssen wir über Steine, Pfützen und kleine Wasserläufe balancieren. Die Träger, mit unseren Rucksäcken bepackt, reichen uns ihre Hand und dirigieren uns souverän über alle Hindernisse. Jedes Mal, wenn er mich einen Hang hochgehievt hat – trotz eines riesigen Seesacks der vier Schweden auf dem Rücken –, haucht mir der andere Sherpa konspirativ seinen Namen zu: „My name is Anastasia.“ Meine Wanderstiefel sind nicht mehr grün, sondern triefend braun. In einem Morastloch versinke ich knöcheltief, Wasser läuft mir in den rechten Schuh, und wie ich an Soldaten, Führern und Trägern sehe, watet man mit simplen Gummistiefeln am besten durch den Matsch.

Der Park wird durch einen Steinwall geschützt

Nach einer Stunde erreichen wir einen Steinwall, die Grenze zum Park. Ihn müssen wir überwinden. Dankenswerterweise sind ein paar Stufen eingebaut, die die Büffel nicht bewältigen können. Für Gorillas, zumal Berggorillas, stellt dieses Hindernis kein Problem dar. Sie finden sich durchaus auch auf der anderen Seite der Mauer wieder, wie unsere Begleiter berichten.

Ein Wall grenzt den Park von den Äckern ab.
Ein Wall grenzt den Park von den Äckern ab.

Hinter dem Wall verändert sich die Landschaft sofort. Wir durchqueren einen dichten Wald aus Bambus, der aktuellen Hauptnahrung der Gorillas. Ob die Schneisen von Büffeln, Elefanten oder Rangern geschlagen worden sind, lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Genutzt werden sie jedoch von allen, wie wir am Kot der beiden großen Tierarten erkennen. Es geht weiter schräg hinauf, und ich bereue schon jetzt, von Ramadhan eine ausgedehnte Wanderung eingefordert zu haben. Glücklicherweise sind wir im Bambuswald vor der brennenden Sonne geschützt. Es ist angenehm frisch, ich habe zwei lange T-Shirts und eine offene Strickjacke an. Den Pullover, mit dem ich mich fast ausgeknockt habe, brauche ich doch nicht; er ist mit der Regenjacke im Rucksack gelandet. Wir winden uns weiter den Berg hoch, technisch anspruchslos, wir müssen nur den nassen, oft morastigen Untergrund meistern – und ich zusätzlich meinen Flachlandorganismus. Meine Pumpe geht wie verrückt. Doch zwei, drei Pausen, Kekse und Bananen geben mir die Kraft zurück.

Große Teile des Gorilla-Lebensraum bestehen aus Bambus - eine ihrer liebsten Nahrungsquellen.
Große Teile des Gorilla-Lebensraum bestehen aus Bambus – eine ihrer liebsten Nahrungsquellen.

Nach einer Stunde sind wir dicht dran, wie uns unsere Begleiter mitteilen, die Spannung steigt. Gleich werden wir dem Silberrücken gegenüberstehen, oder wird er gemütlich im Busch liegen und wir beobachten nur seine Kinder beim Spielen? Warum haben sie uns während des Briefings nichts von den berühmten Scheinangriffen der Familienoberhäupter erzählt, und wie wir uns dabei verhalten sollen?

Endlich!

Kurz darauf gilt es, die Rucksäcke und Stöcke abzulegen. Nur unsere Kameras dürfen wir mitnehmen. Wir lassen die Träger zurück, eine Minute später stehen wir auf einer kleinen Lichtung. Und wie arrangiert kommt sofort der Boss mit einem halben Bambusstab im Maul auf uns zugelaufen. Besser gesagt: Er geht einfach in unsere Richtung. Natürlich hat er uns registriert, hat alles unter Kontrolle, doch er lässt es sich nicht anmerken, zeigt uns vielmehr, dass wir Luft für ihn sind. Seine Familie ist bereits da und hat eben erst diesen Platz für ihre Rast nach dem Morgenmahl auserkoren.

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All unsere Blicke richten sich auf den Chef. Er raspelt weiter am Bambusstück herum, bevor er sich am einzigen Baum auf der Waldwiese zu schaffen macht und zwei, drei Blätter einer Rankenpflanze zum Dessert verspeist. Kräftig zieht er an dem dünnen Strunk, und es macht einen Krach, als reiße er Bäume aus. Wir stehen am Rand der Lichtung, hinter uns ein kleiner Abhang und dichte Vegetation. Weiter können wir nicht zurückweichen, obwohl Munyinya gerade einmal drei Meter von uns entfernt ist. Zwar sind mindestens sechs Meter vorgeschrieben, doch kein Ranger ermahnt uns zum Rückzug, und so richten wir uns ebenfalls ein, bleiben ehrfürchtig stehen und beobachten das Familienoberhaupt bei seiner winzigen Nachspeise.

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Auch die Mütter sind da, halten ihren Nachwuchs auf dem Bauch, im Arm oder auf dem Rücken. Eine, Ikirezi, schaut griesgrämig drein. Nur die Kinder bewegen sich, die Erwachsenen werden in der kommenden Stunde ihren Platz nicht wesentlich verändern. Der Silberrücken bleibt an seiner Pflanze im Mittelpunkt der Lichtung, die anderen legen sich rücklings auf einen Fleck und scheinen sich zu einer unförmigen, schwarzen Fellmasse zu vereinigen. Nur ab und zu schauen die leuchtenden Augen des Jüngsten und ein paar niedliche Füße hinter einem Haarbüschel hervor. Berggorillas sind im Allgemeinen ruhig und friedlich, nicht ansatzweise zeigen sie ein solches Temperament wie beispielsweise Paviane. Doch dass sie so passiv sind, hatte ich nicht vermutet – um sie zu beobachten, ist es jedenfalls praktisch.

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Ruhezeit, Siesta, aber auch Verdauungszeit. Es rumort gewaltig und es stinkt. Schon Dian Fossey bemerkte, dass „der hervorstechendste Geruch, der von Gorillafährten ausgeht, Kothaufen entstammt.“ Hinzukommt der beißende Körpergeruch, Schweiß, der selbst 24 Stunden nach dem Durchstreifen noch die Vegetation durchzieht, wie Fossey festhielt. Zum Glück befinden wir uns an freier Luft.

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Sogar die Jüngsten haben schon eine halbkugelförmige Wampe. Der Boss mampft weiter ein paar für seine Ernährung unbedeutende Blätter und stützt schließlich den Kopf in Denkerpose auf die geballte Hand ab, der Gruppe abgewandt. Er ist einfach da, im Mittelpunkt, der Chef – selbst wenn er nur herumliegt und durch uns hindurchzuschauen scheint.

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Ich hatte mir vorgenommen, meine Kamera zunächst nicht anzurühren. Doch das Licht ist perfekt. Ich möchte den Tieren zurufen: „Danke, dass ihr ausgerechnet auf einer Lichtung seid!“ Doch was ist, wenn die Sippe gleich in den Urwald flüchtet? Meine Reisegefährten haben längst den Chef vors Objektiv genommen: Drei Meter Entfernung, die Sonne strahlt ihm auf den Rücken, kein Wölkchen, kein Regentropfen, er liegt nur ruhig da und schaut uns an. Solch ideale Bedingungen kommen nie wieder, und so schieße ich die ersten Bilder mit meiner extra für diese Reise zugelegten Kamera, die anderen Deutschen nehmen ihr Handy.

Auch Gorillas haben eine innere Uhr

Ich werde genug Zeit haben, ihn in Ruhe abzulichten. Die Szenerie wird sich in unserer Stunde nicht ändern. Munyinya bleibt die gesamte Zeit an einem Fleck, denkt weiter nach, wiegt sein Haupt und knabbert unentschlossen an Blättern. Schließlich dreht er sich auf den Rücken und streckt sich aus, wobei sein Schwabbelbauch zu einer schwarzen, unvorteilhaften Masse auseinanderwabert. Trotzdem: Einer Gala-Uniform gleich glänzt sein Fell prächtig in der Sonne, wie frisch gewaschen, gestutzt und frisiert. Einzig seine tief liegenden Augen sind schwer auszumachen.

Weiter geht es nach der Rast in den Dschungel.
Weiter geht es nach der Rast in den Dschungel.

Es ist, als ob die Gruppe nicht nur an Menschen gewöhnt ist. Sie haben wohl auch die Stunde im Kopf, die sie unsere Spezies jeden Tag ertragen müssen und die zu ihrer Arterhaltung beiträgt. Nach exakt 55 Minuten geht ein Ruck durch die Familie, kurzes Sammeln, dann sprintet der Trupp, angeführt von Munyinya in den Wald.

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