Die Tour zu den Berggorillas: Formalitäten und Zipperlein
Vulkan-Nationalpark, 25. Oktober 2014. Rein dramaturgisch ist es keine gute Idee, den Höhepunkt meiner Reise – den Ausflug zu den Gorillas – gleich auf den zweiten Tag zu legen. Was soll mich danach noch bei Laune halten? Luxussorgen!
Gestern Vormittag waren wir im 100 Kilometer entfernten Kigali aufgebrochen. Ich wollte genügend Zeit haben, mich am Vulkan-Nationalpark zu akklimatisieren, die Gegend auf mich wirken zu lassen und mich auszuruhen. Gerade Ruhe schien ich dringend nötig zu haben, denn mein Mittagsschlaf dauerte fast drei Stunden. Ich bin so gut wie nie krank. Doch vor zwei Tagen auf Sansibar schwoll plötzlich mein rechtes Knie an, ohne dass ich einen Unfall hatte oder umgeknickt war. Es schmerzte und drückte beim Bewegen, halb so wild. Aber ich befürchtete, es würde sich verschlimmern. Also bin ich auf Sansibar zum Arzt gegangen – ganz klassisch zu einem Inder, der seine Privatpraxis bereits in dritter Generation betreibt. Die Bildergalerie im Wartezimmer zeigte ihn, seinen Vater und Großvater jeweils mit den wichtigsten Männern der Insel, Präsidenten und Minister eingeschlossen.
Auch seine Preise waren staatstragend: Eine erste Konsultation in Dr. Mehta’s Hospital, egal wie kurz, kostete pauschal 100 Dollar. Dafür kam ich auch nach 15 Sekunden ran. Dr. Mehta stellte fest, was ich auch vermutet hatte: eine Schwellung. Er verordnete mir für weitere 199 Dollar Antibiotika, Salben und Schmerzmittel, die ich praktischerweise gleich bei ihm kaufen konnte. Während ich die Bilder- und Ahnengalerie im Wartesaal bestaunte, schrieben seine Angestellten die Rechnung etwa in Höhe ihres Monatslohns, beschrifteten und packten die Arzneitüte. 20 Minuten und 299 Dollar später humpelte ich ins Hotel zurück.
Ein deutscher Hauptmann hat die Berggorillas „entdeckt“
Die Investition hat sich gelohnt. Zwar ist die Schwellung nicht weg, dafür aber die Schmerzen. Der Wanderung steht nichts mehr im Wege. Zumindest knietechnisch, denn nun fordert die Höhenlage ihren Tribut. Der Nationalpark liegt auf 2.600 Metern Höhe, etwas tiefer die Stadt Musanze (früher Ruhengeri, die meisten Städte im Land wurden umbenannt, so gibt es oft zwei Namen). Gut also, dass ich bereits am frühen Nachmittag des Vortags eingetroffen bin. So kann ich meinen Körper halbwegs an die Höhe gewöhnen, bevor ich zur Spezies Gorilla beringei beringei steige. Die Tiere sind nach seinem Entdecker benannt, dem Hauptmann der kaiserlichen Schutztruppe im damaligen Deutsch-Ostafrika, Friedrich Robert von Beringe.
Beringe war der erste Europäer, der diese Tierart zu Gesicht bekam – und sogleich zwei Exemplare erschoss, um sie sich näher anzuschauen. Damals ein übliches Verfahren. In seinem Tagebuch schreibt er über seinen Aufstieg zum Sabinjo gemeinsam mit Oberarzt Engeland und fünf einheimischen Soldaten: „Von unserem Lager aus erblickten wir eine Herde schwarzer, großer Affen, welche versuchten, den höchsten Gipfel des Vulkans zu erklettern. Von diesen Affen gelang es uns, zwei große Tiere zur Strecke zu liefern, welche mit großem Gepolter in eine nach Nordosten sich öffnende Kraterschlucht abstürzten.“ Nach fünfstündiger Arbeit konnte die Expeditionsgruppe ein Tier bergen und sogleich begutachten, wie Beringe in seinen Aufzeichnungen erzählt: „Es war ein männlicher großer, menschenähnlicher Affe von etwa anderthalb Meter Größe und einem Gewicht von über 200 Pfund. Die Brust unbehaart, die Hände und Füße von ungeheurer Größe.“
Der Fund war für einen Schimpansen zu massig, und dass die bereits bekannten Flachlandgorillas in dieser Gegend vorkommen, war nicht überliefert. Also wurde die Entdeckung in eine Kiste gepackt und zur Untersuchung ins Zoologische Museum nach Berlin geschickt. Dort stellte dessen Direktor fest, dass es sich um eine neue Art handelt. In ihrem berühmten Buch „Gorillas im Nebel“ beschrieb die Forscherin Dian Fossey die wichtigsten Unterschiede zum Flachlandgorilla: „Der Berggorilla, der mehr den Erdboden und die größten Höhenlagen im Verbreitungsgebiet aller Gorillas bewohnt, hat eine längere Körperbehaarung, einen stärker aus geprägten Scheitel- und Hinterhauptskamm, kürzere Arme, eine längere Gaumenregion und kürzere, breitere Hände und Füße.“ Vor allem das prächtige, seidige Fell, das bis auf die Nasen- und Augenpartie eben auch das gesamte Gesicht bedeckt, ist auffällig.
Der Schädel liegt im Berliner Naturkundemuseum
Aus der anfänglichen Bezeichnung Gorilla beringei wurde schließlich Gorilla beringei beringei, da seit dem Fund des Berggorillas eine zweite Unterform des Östlichen Gorillas festgestellt worden ist, der Östliche Flachlandgorilla. Einen neuen Namen erhielt auch das Berliner Museum. Es heißt heute Naturkundemuseum, doch die Schädel und Knochen des erlegten Berggorillas liegen dort noch immer.
Kurz vor 6 Uhr stehe ich auf, dusche mich und frühstücke. Noch schnell etwas überziehen, draußen ist es kühl. Ich würge meinen Arm in den engen Ärmel meines frisch gewaschenen Pullovers – zack ist er durch, und ich gebe mir durch die Wucht mit meiner Linken einen Haken auf mein rechtes Auge. Das Glas meiner Brille fliegt aus der Fassung. Genau in dem Moment, als ich zu meiner Once-in-a-Lifetime-Experience aufbrechen möchte, habe ich meine Brille kaputtgemacht. Zum Glück habe ich Ersatz dabei, ein altes Modell, mit dem ich nun aussehe wie ein Student.
20 Minuten nach sechs holt mich Ramadhan ab. Wir müssen zwar nicht weit fahren, doch sicher ist sicher. Denn der Aufstieg zu den Gorillas ist zunächst eine recht unromantische Angelegenheit, aufwändiger und bürokratischer als die herzliche Einreise vorgestern. Vor allem muss man pünktlich um 7 Uhr da sein, sonst erlischt der Platz, wurde mir eingeschärft. Grundvoraussetzung für eine Stunde Besuch bei den Gorillas ist allerdings die Zahlung von 750 Dollar. Vielleicht verzichtet Ruanda deswegen generös auf das Eintrittsgeld ins Land? Zuvor musste ich eine Kopie meines Passes an die Reiseagentur schicken, die damit bei der Nationalparkverwaltung in Kigali meine Genehmigung sicherte. Sie hatten recht kurzfristig, erst zehn Tage vorher, einen der begehrten Plätze für mich reserviert. Die Regenzeit hat jetzt, Ende Oktober, bereits begonnen. Da sind die Touren nicht ausgebucht, man könnte sogar spontan auftauchen. Mit Passkopie und Überweisen des Eintrittsgeldes erhielt ich mein persönliches Permit – besser gesagt: Ramadhan erhielt es, behielt es, wird es nachher der Nationalparkstelle vor Ort geben, die es schließlich einbehalten wird. Hilfe, das wollte ich doch als Souvenir behalten!
Die teuerste Stunde meines Lebens
Jetzt geht’s also los. Den Reisepass müsse ich unbedingt bei mir tragen, erinnert mich Ramadhan erneut, sonst dürfe ich nicht hinein – genauso wichtig wie aufgeladene Akkus, leere Speicherkarten und Wanderschuhe. Er führt mein Permit bei sich. Es muss so bedeutsam sein, dass ich es keine Sekunde in den Händen halten werde und gar nicht erst zu Gesicht bekomme.
Der Tag ist nicht mehr ganz jung, die Sonne ist schon um 5.30 Uhr aufgegangen. Wir fahren durch das ebenso aufgeräumte Musanze/Ruhengeri hoch in die Berge. Den Norden der Distrikthauptstadt überragen unübersehbar einige Gipfel der acht Virunga-Vulkane: Schönste Morgenstimmung, üppige Natur, im Tal liegt Nebel, kaum Wolken in Sicht. Da sich auf dem Berg die Wetterverhältnisse jedoch schnell ändern können, leihe ich mir für fünf Dollar eine Regenjacke. Gestern noch empfing mich die Gegend mit grauem Novemberwetter: diesig, regnerisch, dunkel. Kein Wunder dass ich den ganzen Nachmittag im Bett geblieben bin.
Auf den Straßen sind viele Leute unterwegs. Es ist Sonnabend, der letzte im Monat, und das bedeutet, dass an diesem Vormittag jeder in Ruanda zum gemeinschaftlichen, öffentlichen Arbeitseinsatz antreten muss – Umuganda, vom Bauern bis zum Präsidenten, angeblich. Alle Geschäfte schließen in der Zeit, der Verkehr ruht, nur der Tourismus ist von der Aktion ausgenommen. Das Volk fegt die Straßen, macht Städte und Dörfer sauber, Überlebenden des Genozids baut man ein Haus. Schon gestern hatte ich als Vorboten des Subbotniks Transportwagen voller Besen und Schaufeln gesehen, heute sollen sie zum Einsatz kommen. Doch ich staune: Die Wege sind bereits blitzblank, die Dörfer geleckt, es ist längst alles besenrein! Wo wollen sie heute noch wienern?
Gern hätte ich mir den obligatorischen Arbeitseinsatz einmal angeschaut, aber zeitgleich werde ich die Berggorillas treffen. Mit meinem Honorar leiste ich ohnehin meinen Beitrag zur Entwicklung des Landes und zum Schutz der Tiere. Wobei die fein ziselierte Preistabelle des Nationalparks das Herz eines jeden Sozialstaatsingenieurs höherschlagen lassen würde – eingeschlossen die absurden Widersprüche eines solchen Konstrukts: Ich zahle voll, den Höchstpreis von 750 Dollar. Bürger der Ostafrikanischen Gemeinschaft (Ruanda, Burundi, Uganda, Tansania, Kenia) reichen 300 Dollar über den Ladentisch, Ruander wiederum sind mit nur 50 Dollar dabei. Wer nun als Westler in Ostafrika wohnt und arbeitet, weil er von einem Konzern oder einer internationalen Organisation mit einem üppigen Gehalt alimentiert wird, bekommt ebenfalls Rabatt. Die Abteilungsleiterin einer UN-Behörde in Nairobi entrichtet also die Hälfte dessen, was ein junger Backpacker aus Europa abdrücken müsste.
Vor 20 Jahren wäre ich zwar von den 750 Dollar einen Monat durch Afrika gereist. Aber heute freue ich mich, dass ich mir den Eintritt leisten kann. Und später werde ich nie wieder an das Geld denken, stattdessen nur noch an den Moment, als ich dem Silberrücken in die Augen schaue. Okay, besser gesagt: nicht direkt in die Augen – er ist der Chef – sondern, sagen wir mal, auf seinen schönen Rücken.
Wir erreichen die Nationalparkverwaltung mit ihrem adretten Gästezentrum: ein großer Garten, ein ebenso ausgedehnter Parkplatz, eine weite, offene Rundhütte und eine immer noch fantastische Sicht auf die Virunga-Vulkane. Wir befinden uns an den Ausläufern des Sabinjos (3.645 Meter). Später werden wir den Berg noch ein Stück hoch fahren, bevor wir mit der Wanderung beginnen.
Vorprogramm
Es ist kurz vor 7 Uhr. Die meisten Gäste sind schon da und haben es sich in einem Pavillon mit freiem Kaffee und Tee gemütlich gemacht. Davor spielt eine Tanz- und Trommelgruppe. Ich bin sonst kein Freund von Folklore, aber das hier gefällt mir. Es ist eine angemessen-dezente Einstimmung. Ein bisschen Zelebrieren muss sein, denn fast alle Touristen kommen wegen der Gorillas nach Ruanda. Ich schaue mich um. Es sind gut 50 Leute da, die wie ich auf den großen Tag warten. Einige von ihnen trinken auffällig routiniert ihren Kaffee. Sie sind wahrscheinlich nicht zum ersten Mal hier, machen eine zweite oder gar dritte Tour oder steuern andere Ziele an, etwa die Goldmeerkatzen oder das Grab der Gorillaforscherin Dian Fossey. Tatsächlich dürften die rund 50 Besucher für einen gehörigen Teil aller Gäste stehen, die sich aktuell im Land aufhalten. Obwohl Ruanda mit dem Kiwusee und dem Nyungwe-Wald mindestens zwei weitere sehenswerte Naturattraktionen bietet – die ich später aufsuchen werde –, zieht es die Masse nicht dorthin. Zumal derzeit Nebensaison ist. Dafür machen einige gleich mehrere Gorilla-Touren an aufeinanderfolgenden Tagen. Bis auf eine Afrikanerin sehe ich ausschließlich westliche Touristen.
Die Sacola Traditional Dancers spielen und tanzen weiter. Ich genieße die Morgenstunde, den Blick in die Nebelschwaden über der Ebene, schaue zum fünften Mal nach meinem Pass und blinzle in die Sonne, voller Erwartung auf den Aufstieg, die Wanderung und die Tiere. Zur selben Zeit handeln die Reiseführer für ihre Schützlinge die Gruppen aus: Acht Gorillafamilien, die an Menschen gewöhnt sind, lassen sich besuchen. Sie sind unterschiedlich groß, manche haben besonders viele Babys, Kinder, auch Zwillinge. Einige Sippen leben hoch in den Bergen, und die Touristen, die mehrere Exkursionen machen, wollen natürlich immer zu einer neuen Familie. Trotz der leichten Knieblessur möchte ich den Tag in vollen Zügen genießen. Dazu gehört ein langer Fußmarsch, am besten zur am weitesten entfernten Susa-Gruppe. Das hatte ich Ramadhan übermütig aufgetragen.
Die Aufteilung ist klar, die Führer der acht Riegen rufen ihre Gäste: Ich gehe zur Hirwa-Gruppe, eine mittelgroße mit 19 Tieren. Sie besteht aus vielen Kindern und sogar Zwillingen, Isango Gakuru und Isango Gato, angeführt von Silberrücken Munyinya. Zu unserer Menschengruppe zählen außer mir vier Schweden, die allerdings in Nairobi wohnen, ein deutscher „Consultant“ aus Kigali und seine Frau. Ich bin also neben der Ehefrau, die auf Besuch ist, der einzige Tourist. Das wird sich auch später schonungslos zeigen: An die Höhenlage, Nairobi liegt auf 1.661 Metern, Kigali nur 100 Meter tiefer, sind alle besser gewöhnt als ich. Vorgestern sonnte ich mich noch auf Normalnull am Pool auf Sansibar.
Wir bekommen die Hirwa-Gruppe
Unser Führer begrüßt uns, gibt uns auf einer Schautafel mit Fotos und Namen aller Tiere eine Übersicht über die Hirwa-Gruppe und erläutert kurz den Ablauf: Wir fahren mit den Autos weiter in die Berge bis zum Startpunkt, wandern von dort über die Felder bis zur Nationalparkgrenze und schließlich zu den Gorillas. In zwei bis drei Stunden werden wir da sein. Wo genau sich dann die Affen befinden, wisse man jetzt natürlich nicht. Doch sogenannte Tracker begleiten stets die Tiere. Sie funken den Standort durch und beobachten, was sie treiben, was sie essen, ob sie krank sind oder ein Kind bekommen – und nicht zuletzt passen sie auch auf sie auf. Schließlich leben nur noch hier in den Virunga-Bergen, die sich Ruanda mit dem Kongo und Uganda teilt, und in einem kleinen, weiteren Waldstück in Uganda insgesamt 800 Berggorillas. Die Zahl hat zugenommen in den vergangenen Jahren, doch über den Berg ist die Population noch nicht. Wilderer treiben ihr Unwesen, selbst in Ruanda. Sie haben es zwar auf andere Tierarten abgesehen, doch die Fallen selektieren nicht nach Antilopen oder Menschenaffen. Später werde ich auf dem Gorillasdoctorsblog lesen, dass ausgerechnet ein Junges der Hirwa-Gruppe im Sommer in eine Falle getreten war, zum Glück „nur“ in eine Schlinge. Die schnell herbeigerufenen Mediziner konnten es befreien, nachdem sie den kleinen Gorilla mit einer Pfeilspritze in Narkose versetzt hatten. Silberrücken Munyinya war aufgebracht, ließ die Helfer jedoch gewähren. Aufgewacht und mit versorgter Wunde schloss das Kleine bald zur Familie auf.
Trotz allem: Während Fossey 1983 von nur noch 240 in Freiheit lebenden Berggorillas schrieb, sind es heute in beiden Lebensräumen 880. Obwohl ihre Umstände alles andere als günstig sind und selbst das durchorganisierte Ruanda die Wilderei nicht aus und selbst das durchorganisierte Ruanda die Wilderei nicht ausrotten konnte, ist die Population in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen.
Hier geht es zum zweiten Teil.
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