23. August 2015: Görlitz, Lausitzer Neiße. Ein rauschendes Wehr und eine idyllische Bogenbrücke – ich könnte meinen, mein Blick schweift über einen Gebirgsbach im Harz. Tatsächlich liegt die Obermühle, ein Ausflugslokal, gleich neben der Innenstadt von Görlitz.

Auch paddeltechnisch befinden wir uns eher im Flachland. Genug Boote zum Mieten liegen daher an der Lausitzer Neiße bereit: Ruderkähne und Kanadier. Die halbe Stunde kostet vier Euro.

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Ich muss die Paddel-/Ruderregeln durchlesen, mich in eine Liste eintragen, die Abfahrzeit notieren und meinen Autoschlüssel als Pfand hinterlassen. Dann schnappen wir uns die Geräte. Heute, nur eine Woche nach der Fahrt in Buckow, nehme ich für den Kanadier die korrekten Stechpaddel. Schließlich kenne ich mich jetzt aus. Doch zum ersten Mal werde ich hinten sitzen und steuern. Ich bin gespannt, denn trotz langer Paddelerfahrung auf dem Kajak ist die andere Kanusparte für mich Neuland, besser gesagt: Wildwasser. Meine Begleitung erhält eine Schwimmweste. Darüber werde ich später froh sein.

Der Eiertanz beginnt schon vor der Abfahrt: Über eine steile Böschung mit schiefen Treppen stolpern wir uns zum Ufer. Wo ist bei dem Boot vorne und hinten? Es sind drei statt zwei Sitze wie in der letzten Woche. Ich schaue, wie alles Sinn ergibt, wo wir die Füße hinstellen und unsere Taschen ablegen. Dann helfe ich Martina, sie fährt zum ersten Mal überhaupt, ins Boot. Einen Steg gibt es nicht. Ich mache die Leine los und setzte mich auf den mittleren Platz.

Im Sog

Die Sonnenterrasse der Obermühle ist voll. Alle Augen dürften beiläufig unser Ausparkmanöver registrieren, es gibt sonst keinen Verkehr. Wir stoßen uns nach hinten ab, stoppen, wenden und fahren flussaufwärts. Wir kommen gut voran, aber irgendwie funktioniert das mit dem Steuern nicht. Obwohl wir mit derselben Kraft arbeiten, fahren wir scharf nach links, Richtung Wehr. Oberflächlich liegt das Wasser ruhig da, doch die Fließrichtung ist offenkundig. In den Paddelregeln und Hinweisen am Tresen fehlte ausgerechnet der entscheidende Tipp zu der prekären Situation gleich am Start. Wir sind noch komfortabel vom Wehr entfernt, aber eindeutig lenkt uns der Sog in seine Richtung. Ich nutze den Schwung des Bootes flussabwärts und drehe es vollständig. Rasch fahren wir nochmal zur Anlegestelle.

Das Wehr an der Obermühle
Das Wehr an der Obermühle

So ganz verstehe ich nicht, trotz des Sogs, woran es lag. Andere Freizeitpaddler schaffen es doch auch. Vielleicht ist mein Platz in der Mitte des Boots, dort wo der Bauch ist, nicht gerade günstig zum Steuern … Ich setze mich ganz nach hinten und rasch entfernen wir uns von den neugierigen Blicken, die sich wieder Kaffee und Kuchen zuwenden müssen. Wieder was gelernt.

Im Schatten der Bäume und des Steilhangs fahren wir unsere ersten ruhigen Minuten. Alles funktioniert; Takt, Balance und Richtung stimmen. Kurz darauf gleiten wir unter der ungewöhnlich großen Eisenbahnbrücke hindurch, dem Neißeviadukt. Die 35 Meter hohen Bögen erinnern daran, dass sich der Fluss hier ein tiefes Tal geschnitten hat.

Der Feldmühlgraben.
Der Feldmühlgraben.

Dahinter teilt sich der Fluss. In den Paddelregeln wurden mehrere Routen vorgeschlagen. Wir bleiben auf der deutschen Seite der ehemaligen „Friedensgrenze“. Parallel zu unserer Strecke führt der gut frequentierten Rad- und Wanderweg entlang, nicht weit von uns quietscht die Görlitzer Oldtimer Parkeisenbahn. Auf dem Feldmühlgraben erreichen wir bald die nächste Gabelung. Wir entscheiden uns für den linken Seitenarm, doch bald werden die See- und Teichrosen dichter. Baumstämme überfahren wir nur knapp, das Fließ verengt sich. Wir nutzen die letzte geräumige Möglichkeit zum Wenden und versuchen es mit dem nächsten Abzweig an der Uferseite.

Es ist schattig und ruhig, auf dem Wasser sind wir allein. Unsere Blicke werden rasch vom Grün der Bäume und Rankenpflanzen aufgehalten. Auch in diesem Abschnitt des Feldmühlgrabens kommen wir nur ein paar Hundert Meter voran, dann ist alles zugewachsen.

Auf dem Weg zurück zum Hauptstrom erkennen wir auf einer unscheinbaren Mini-Insel eine betonierte Sitzgarnitur, den sogenannten Steinernen Tisch. Das Eiland ist die einzige Stelle, an der man anlegen darf, doch alte, abgebrochene Holzpflöcke eines einstigen Stegs hindern uns daran.

Die Lausitzer Neiße.
Die Lausitzer Neiße.

„Hilfe, Hilfe! Helfen sie uns“, rufen uns drei Kinder vom Ufer zu. Ich schaue und kann nichts Bedrohliches entdecken. Trotzdem fahren wir näher. Erneut bitten sie um Hilfe, kommen bis an den Rand und winken. Doch warum stehen zwei Erwachsene, wahrscheinlich ihre Eltern, so unbeteiligt auf dem Spazierweg daneben? Wir sind nun auf Paddellänge herangekommen und erkennen: nichts Dramatisches, ein Spaß der Kinder. Ich sage ihnen, dass ich beim nächsten, womöglich ernst gemeinten Hilferuf nicht mehr reagieren würde. „Das haben wir ihnen auch schon erzählt“, erwidern die Eltern.

Schon in Polen

Kurz vor der Eisenbahnbrücke biegen wir wieder auf die Lausitzer Neiße ein. Hier ist sie ein gerader, eher langweiliger Kanal: ein paar polnische Angler, der obligatorische Reiher, die nächste Biegung ist ein, zwei Kilometer entfernt. Von Polen schallt Musik von einem Rockkonzert herüber. Nach 20 Minuten drehen wir um und halten an einer sonnigen Stelle, an der keine Bäume die tief stehende Sonne verstellen. Ein Reh schaut uns aus dem Dickicht an, so entspannt wie wir.

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Kehrt man zurück, hat man den besten Blick auf den prächtigen Neißeviadukt. Er ist kaum befahren und schmiegt sich damit auch akustisch in die Natur ein. Genauso geben die Gebäude und Nebengelasse der Obermühle nun das schönste Postkartenbild ab. In aller Ruhe kann ich jetzt Fotos machen, den richtigen Dreh mit dem Paddel habe ich schließlich raus. Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir das sichere Ufer. Die 16 Euro Leihgebühr kommen auf unsere Lokalrechnung, schließlich müssen wir von der Terrasse schauen, wie andere Paddler das Abfahrtsmanöver hinbekommen. Vielleicht sollte ich es beim nächsten Mal wieder mit meinem Kajak versuchen?

Der Neißeviadukt.
Der Neißeviadukt.