Kula Hongo – Kenias bittere Version von „All you can eat“
Mein Taxi bremst. Eine Straßensperre. Der Polizist bedeutet dem Fahrer, anzuhalten, und wir kommen zum Stehen.
„Wie geht es?“, fragt der Beamte.
„Gut? Und Dir?“
„Danke auch gut.“
Beide geben sie sich die Hand. Weit muss sich der Fahrer dazu zum anderen Fenster ausstrecken. Der Polizist steht am Straßenrand, an der Beifahrertür.
„Auf Wiedersehen und einen schönen Tag“, wünschen sich beide rasch, und schon kann der Chauffeur unsere Tour fortsetzen. Beide sind zufrieden, der Polizist mutmaßlich etwas mehr – er hat gerade 100 Schilling Schmiergeld erhalten.
Für Außenstehende ist die Geldübergabe nicht zu bemerken. Und selbst wenn man es weiß und genau hinschaut, sieht man nichts – wenn sich die beiden Hände zum Gruß berühren und dabei unauffällig ein zerknüllter oder zusammengefalteter Geldschein den Besitzer wechselt.
Zufrieden ist aber auch der Fahrer; und zwar allein wegen der banalen Tatsache, seine Fahrt fortsetzen zu können. Hätte er dem Polizisten bei dem nur vordergründig launigen Grußaustausch nichts zugesteckt, wäre er an der Straßensperre hängengeblieben. Und die Beamten hätten unter Garantie etwas gefunden. Keine Fahrerlaubnis, abgelaufene Versicherung, ein kaputtes Blinklicht, ein Fahrgast war nicht angeschnallt – irgendetwas ist fast immer. Mit einem fröhlichen „Hakuna matata“ hätte man sich hier nicht aus der Affäre ziehen können.
Es sind nur 100 Schilling, doch manche Berufsgruppen – etwa Farmarbeiter oder die Bedienung einer Dorfkneipe – haben am Ende eines langen Arbeitstages gerade einmal 300 Schilling in der Tasche. Selbst der arme Tuktuk-Fahrer, der am Provinzflughafen einen Passagier für 300 Schilling abgesetzt hat, muss seinen Obolus entrichten. Freilich zahlt dies indirekt der Fahrgast. Die Fahrten zum Flughafen mit permanenter Polizeipräsenz sind überdurchschnittlich hoch – und unverhandelbar.
Ein Monatslohn pro Tag
100 Schilling – innerhalb einer Schicht, etwa in Großstädten wie Nairobi oder Mombasa, kann sich dieser kleine Betrag auf 7.500 Schilling summieren, wie mir ein Polizist im ausführlichen Gespräch berichte. 7.500 Schilling, knapp 70 Euro – und dies pro Beamter. Die anderen drei Kollegen holen abwechselnd dasselbe aus den geöffneten Fenstern heraus; vor allem, wenn die Sperre – natürlich nicht zufällig – auf einer belebten Matatu-Strecke liegt. Matatus sind Sammeltaxis, und es dürfte wohl im gesamten Land kein Fahrzeug geben, das alle Vorschriften erfüllt. Im Gegenteil: Der Großteil der Kleinbusse wäre in westlichen Ländern schrottreif und würde sofort stillgelegt. Damit sie trotzdem fahren, dafür brauchen die Dieselfahrzeuge kein Öl, sondern Schmiermittel.
Kann man bei den kommerziellen Matatus noch von einer Logik des Freikaufens, ja einem Win-win-Geschäft ausgehen (schließlich verzichtet der Matatu-Betreiber auf notwendige Investitionen und Sicherheitsvorkehrungen), so werden andere, vor allem Privatfahrer oder Gelegenheitstaxis, ohne Gegenleistung gepiesackt und abkassiert. Wie bei einer Schutzgelderpressung besteht der Service im Verzicht auf Ungemach, etwa den ganzen Tag auf einer Polizeistation zu schmoren. Dort würde man automatisch mehr bezahlen, das Auto würde gar festgesetzt werden, sodass man lieber 100 Schilling abgibt – die dazu gesammelt im Handschuhfach liegen. Das Anlegen eines Depots von Scheinen gehört bei Überlandfahrten zur Vorbereitung wie das Auftanken. 50 Schilling, wie einst, wären dabei ein Affront. Jeder weiß das, selbst der arme Tuktuk-Fahrer, der am Ende des Tages nach Abzug von Fahrzeugmiete und Benzin nur 300, 400 Schilling übrighat.
Das System des gegenseitigen Gebens und Nehmens
7.500 illegale Tageseinnahmen – das ist mehr als die meisten Kenianer im Monat verdienen. Davon allerdings darf der Polizist vor Ort nicht alles behalten. 1.500 Schilling muss er an den Chef der Polizeistation abgeben, seine drei Kollegen auch. 6.000 Schilling erhält der Boss also nur von dieser Truppe, pro Tag und obendrauf. Doch auch er muss teilen, Afrikas Variante der Sharing-Economy. Müssen seinen Mannen und Frauen täglich das Geld an ihn weiterreichen, so gibt er seinen Obolus wöchentlich an seinen Chef ab, bei den regelmäßigen Treffen der Polizei auf County- oder Sub-County-Ebene. Hierfür gibt es festgelegte Beträge, die sich je nach Ort und „Wirtschaftsstärke“ unterscheiden, wie mir der Polizist aus dem Umland einer Großstadt schildert. Alle Beteiligten wissen, wie ergiebig das jeweilige LizenzgebietEinzugsgebiet ist und entsprechend muss der jeweils Untergebene zahlen. Auf diese Weise geht es weiter hinauf. Sub-County zahlt an County und County zahlt an den Chef der jeweiligen Region – und von dort geht es im Monatstakt ganz nach oben bis zur nationalen Spitze.
Die Summen sind fest im privaten Budget eingeplant – und das bedeutet wiederum, dass Geld reinkommen muss, damit man am Tages-, Wochen- oder Monatsende gegenüber seinem Boss nicht mit leeren Händen dasteht. Das System selbst übt den Druck aus, damit überhaupt Geld in die Kasse kommt – und daher sind die Raubzüge fester, wenn nicht sogar Hauptbestandteil des Dienstplans.
Wer nicht mitmacht, was kaum vorkommt (schließlich ist die Geldgier ein Grund dafür, Polizist geworden zu sein), der wird schlichtweg versetzt und landet auf einem Posten im Innendienst. Dort gibt es nichts zu holen. Ähnliches würde auf den anderen Ebenen der Räuberleiter passieren – doch auch dies nur theoretisch, schließlich sind alle Partner in Crime.
Was würde wohl passieren, wenn man nichts zahlt oder als begriffsstutziger Tourist zum ersten Mal angehalten wird? „In der Regel wird man dann festgesetzt und gemeinsam mit dem Auto auf die Wache gebracht. Das Auto muss am Ende teuer ausgelöst werden“, erklärt der geläuterte Polizist. Wenn man sich nicht auf der Wache verständigt, gibt es eine offizielle Anklage; etwa, weil der Polizist tatsächlich etwas gefunden hat oder wegen Obstruktion, das geht immer. „Auch ist bewusst nicht fest definiert, wie ein fahrtüchtiger Reifen aussehen muss, das ist Auslegungssache vor Ort. Dann landet man vorm Richter, was dauern kann und teuer wird – und Richter glauben immer den Polizisten.“ Um genau diesen Aufwand zu vermeiden, wird das Schmiergeld gezahlt. Sollte jedoch ein Tourist mit sauberen Papieren und vollständig fahrtüchtigem Auto tatsächlich keine Fehler begangen haben, stehen die Chancen nicht schlecht, ohne Zahlung davon zu kommen. Auch dies folgt einer Logik: In der Zeit, in der man sich mit renitenten Mzungus herumschlägt, gehen den Polizisten viele andere zahlungswillige Opfer durch die Lappen.
Alle machen mit
Der hochrangige Polizist, der sich mir offenbart, war früher selbst Teil dieses Systems – wie nahezu jeder seiner Kollegen in Kenia. Doch nachdem er sich stärker dem Christentum zugewandt hatte und tiefgläubig geworden war, nahm er keine Zahlungen mehr an – und zahlt auch selbst nicht bei anderen Gelegenheiten. Auf seiner Polizeistation mit mehr als 100 Beamten ist er nach eigener Aussage der Einzige mit dieser Einstellung. Die Konsequenz: Versetzung ins Büro, fernab der Geldquellen und ein drastischer Absturz im Lebensstandard, auch sein Auto musste er verkaufen. Schließlich verdienen sich Polizisten ein Vielfaches ihres schmalen Gehalts hinzu, das am Anfang und über lange Jahre für einfache Beamte um die 20.000 Schilling (knapp 180 Euro) beträgt – und mit ein Grund dafür sein dürfte, weshalb sie die Hand aufhalten.
100 Schilling fürs reine Passieren einer willkürlich errichteten Sperre sind die Ausgangsbasis, ohne dass der Beamte darum „bitten“ muss. Druck wird hier nur indirekt ausgeübt. Anders sieht das bei Aktionstagen aus, gern vor Feiertagen, bei der die Großfamilie des Polizisten beköstigt werden möchte – und man als Beamter gegenüber der Verwandtschaft einen Ruf zu verteidigen hat. Dann wird mit Nachdruck auf „kitu kidogo“ (wörtlich: kleine Sache hingewiesen). Bei offenkundigen Verstößen wird „leta ya macho“ geraunt, im übertragenen Sinne etwa: „das bleibt zwischen uns“ oder: „das haben nur unsere Augen gesehen“. Bei forschem Auftreten sind durchaus 1.000 Schilling fällig, je nach Laune und Willkür auch mehr. Wer nicht zahlen kann, es geht auch mit dem Handybezahlsystem M-Pesa, auf das das Land zurecht stolz ist. Gleichzeitig ist die Innovationen auch ein Beleg dafür, dass Korruption nicht zwangsläufig Bargeld benötigt. M-Pesa ist zwar direkt mit dem Namen des Kontoinhabers verbunden. Doch natürlich haben Polizisten einen direkten Zugang zu verlorenen oder gestohlenen Dokumenten anderer Personen, manche haben davon gleich mehrere, weiß der Informant zu berichten. Mit deren Identität wird dann ein M-Pesa-Konto eingerichtet.
Wer als Beamter hier nicht mitspielt – eine Versetzung an die Polizeiakademie wäre übrigens kein Verbannungsort, sondern eine Beförderung zu neuen Futtertrögen. Denn Rekruten dort dürfen das Gelände während der Ausbildung nicht verlassen und müssen Dinge des täglichen Bedarfs im hauseigenen Laden einkaufen, Zahnpasta gern für den dreifachen Preis. Besitzer des lukrativen Geschäfts ist nicht zufällig der Chef der Polizeiakademie – und der überhöhte Kaufpreis könnte glatt als Teil der Ausbildung gelten: Wer es bislang nicht wusste, hat das System nun begriffen. Das Geld holt man sich dann nach dem Training wieder. Tausendfach.
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