Peene-Kilometer 47, Sophienhof >> Gützkow. 22,5 km; 4,7 km/h

Früh wache auf und richte mich mit einem Kaffee auf dem Steg ein. Der Himmel ist klar und es ist frisch. Das Mädchengekreische war irgendwann verstummt. Bis zehn Uhr werden wir keinerlei Mucks aus ihrem Tipi-Zelt vernehmen. Einige Frühaufsteher aus dem Dorf gehen baden. Mit einem von ihnen kommen wir ins Gespräch: Ein Sachse und Schausteller, der in diesem Corona-Jahr nichts zu tun hat und hier seinen abgeschiedenen Zweitwohnsitz genießt. Bei ihm zuhause können wir auch unsere Powerbank aufladen, später bringe ich noch mein Handy vorbei – und lasse mir sein saniertes Backsteinhaus mit Ferienwohnung zeigen. Überhaupt gelangen wir rasch mit allen Leuten in Kontakt. Abgesehen von zugereisten Sachsen hätte ich die Menschen hier als zurückhaltender vermutet. Ein Flaschensammler, der trotz Dorfjugend-Party vergebens im Mülleimer nach Pfandgut sucht, erzählt mir die Dorfgeschichte der vergangenen 50 Jahre.

Wie alle Dörfer und Städtchen im Hinterland der Wasserwanderrastplätze sollte man unbedingt auch Sophienhof besichtigen. Ein Romantikmaler hätte es sich nicht besser ausdenken können: Eine baumbestandene Kopfsteinpflasterstraße windet sich den Weg an einer saftigen Pferdekoppel vorbei den Weg zum Dorf hoch. Dort ist, wie immer hier, alles liebevoll gepflegt. Die großartig sanierten Backsteinhäuser – laut Flaschensammler einst Ställe für wahlweise Schweine, Rinder und Schafe – künden vom Engagement der meist zugereisten Bewohner. Ein pittoresker Dorfteich und ein prächtiges Pfarrhaus runden das Kitsch-Bild ab und geben noch einmal Kraft für den großen Ritt. Heute steht uns die längste Etappe bevor: 21 Kilometer bis Gützkow. Wir steigern uns von Tag zu Tag. Trotzdem fahren wir erst um 12.30 Uhr los.

Nicht dass wir etwa die Peene über haben. Doch die Etappe heute zieht sich nicht nur distanzmäßig in die Länge, sondern auch gefühlt. Die Landschaft ist nach wie vor grün und schön, aber hinter Alt-Plästlin auch etwas eintönig. Die exklusiven Gespräche mit Falko entschädigen mich. Heute wollen wir nur durch und ankommen und lediglich in Jarmen Station machen. Es macht von der Karte her nicht den schönsten Eindruck – die Autobahnbrücke kreuzt hier die Peene –, und reimt sich wohl nicht zufällig auf „erbarmen“. Kurz hinter Sophienhof liegt mit Alt-Plästlin ein weiterer Wasserwanderrastplatz – der nicht ansatzweise so charmant ist wie Sophienhof. Dann findet sich bis Gützkow lange kein Übernachtungsstelle, auch nicht im dafür als naheliegend erscheinenden Jarmen.

Das Wetter ist zunächst bedeckt und dazu passt, dass wir bei einer kurzen Pause auf einem offiziellen Rastplatz in Trissow direkt in den Hintern eines liegenden nackten Mannes schauen müssen, den er hier ungeniert ankommenden Gästen entgegenstreckt. Seine Partnerin ist angezogen, sagt ihm aber auch nicht, dass jemand kommt oder legt ihm ein Handtuch über sein schlechtestes Stück. Schnell wieder weg. Dann lieber Pause in Jarmen.

Gegen 16 Uhr kommen wir dort an. Die Autobahn zieht sich mit einer ungewöhnlich langen Brücke über das Peenetal, exakt 1.111 Meter. Auf dem Weg nach Rügen und Usedom bin ich schon oft hierüber gefahren und habe mich gefragt, für welchen großen Fluss wohl solch eine ausgedehnte Brücke nötig ist. Erstaunlicherweise hört man gar nichts von den durchrasenden Autos. Die Strecke verfügt über Schallschutzfenster. Und auch wenn Jarmen keinen richtigen Rastplatz zu bieten hat, so doch eindrucksvolle Industriearchitektur. In einem langen Bogen durchquert die Peene das Städtchen, flankiert von Bootsschuppen, Silos, imponierenden Speichern und einem alten Kran. Jarmen selbst ist durchaus ansehnlich, aber verschlafen, und wir wollen, ja müssen weiter, um die heutige Etappe hinter uns zu bringen. Schon jetzt sind wir geschafft. Noch sechs Kilometer.

Die Sonne brennt  wieder herunter. Ich bin vollständig mit Tüchern, langärmeligen Hemden und Mütze mit Nackenschutz eingepackt. Gleich hinter den beiden Brücken in Jarmen wird die Landschaft gefälliger. An jedem Flusskilometer erkennen wir den Fortschritt. Es ist eine Bundeswasserstraße – trotz keinerlei wirtschaftlicher Bedeutung, abgesehen vom Tourismus. Und so stehen exakt alle 1000 Meter Schilder mit der aktuellen Kilometerzahl. Oder vielmehr: sollten stehen. Sind das etwa weitere Verfehlungen aus dem Hause von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer? Nun reicht es aber, und ein Rücktritt erscheint mir jetzt unumgänglich!

Es könnte aber auch daran liegen, dass ich mich eher auf andere Dinge konzentriere und die Schilder naturgemäß genau dastehen, wo sie distanzmäßig hingehören – und wenn dort das Schilf alles überragt oder inzwischen eine Weide gewachsen ist, sie nicht ins Auge fallen. Falko zieht mich fast jedes Mal damit auf, dass ich die Markierungen übersehe, muss aber zugeben, dass auch er einige Schilder vermisst. Also Bundestagsopposition: Bitte übernehmen!

In Gützkow erreichen wir den offiziellen Rastplatz, den wir uns für diese Nacht auf der Karte ausgeschaut hatten. Unattraktiv, mit viel Schotter, null Idylle und einem halben Dutzend Anglern. Ein schlechter Ort, um unsere Rekordetappe zu feiern. Auf der Karte ist ein Zeltplatz beim Kanuverein Gützkow eingezeichnet, der allerdings nur über einen langen Stichkanal erreichbar ist. Falko möchte heute nicht mehr paddeln, zumal vielleicht umsonst, wenn uns der Platz nicht gefällt oder er ausgebucht ist. Also laufe ich ins Dorf. Ein Angler meint: „Nur 600 Meter“. Am Ende werden es mehr als 1,5 Kilometer – pro Richtung. Entschädigt werde ich dafür von einer verträumten Kopfsteinfplaster-Chaussee.

Nach einer knappen Stunde bin ich zurück. Der Platz ist prima und trotz vieler Gäste nicht überbucht. Wir fahren unsere Fram die letzten 1.400 Meter und sinken dort halb acht erschöpft in unsere Stühle. Heute ohne Peeneblick vom Steg, dafür aber mit buntem Treiben anderer Paddler und Familien, die am Lagerfeuer sitzen. Hier trifft auch wieder der Schnarch-Traumatisierte von Aalbude auf uns, der offensichtlich immer noch nicht die vorvorletzte Nacht verdaut hat. Demonstrativ stellt er am anderen Ende des Platzes sein Zelt auf. Wir machen uns eine Soljanka und trinken Zuckerrohrschnaps aus Madeira, den ich zum Geburtstag bekommen hatte. Die Mücken aber vertreibt der Poncha leider nicht.

Hier geht es zu Tag 7, von Sophienhof nach Gützkow.