Dar es Salaam >> Mbeya, 18./19. Januar 2010. Lange Schlangen, Chaos, Drängelei – das Abenteuer einer afrikanischen Bahnfahrt beginnt meist schon beim Kauf der Fahrkarten. Doch am Schalter der TAZARA-Bahn in Dar es Salaam, der wichtigsten Stadt Tansanias, geht alles erstaunlich glatt: Nach zehn Minuten habe ich meine Tickets in der Tasche, es gibt keine Missverständnisse, und ich werde auch nicht über den Tisch gezogen. Für die einzige Verzögerung bin ich selbst verantwortlich, denn ich weiß nicht, wo genau ich hinfahren möchte: Ich habe kein richtiges Ziel, sondern will einfach mit dem Zug durch Tansania fahren.

Da ich aber für irgendeinen Ort eine Fahrkarte lösen muss, bespreche ich mit dem Verkäufer den Streckenverlauf, und er empfiehlt mir schließlich die Stadt Mbeya: Sie liegt weit genug entfernt von meinem Ausgangspunkt Dar es Salaam (laut Fahrplan 20 Stunden), und es ist die letzte große Stadt, bevor der Zug nach Sambia fährt. In Mbeya würde ich aussteigen – um bald darauf einen Zug zurückzunehmen.

Ursprünglich hatte ich einen Tag für die Reiseorganisation eingeplant, nun verfüge ich plötzlich über ausreichend Zeit, den überdimensionierten Bahnhof zu besichtigen. Seine wuchtige Bauart passt zu afrikanischen Prestigeobjekten, stilistisch gehört die Station aber eindeutig in andere Weltregionen: Mitte der 1970er Jahre hatte China die Trasse – die Tanzanian-Zambian-Railway (TAZARA) – zwischen der Kupferregion des Nachbarlandes Sambia und Dar es Salaam am Indischen Ozean gebaut, damit die sambischen Bodenschätze nicht mehr über den Apartheidstaat Südafrika exportiert werden mussten. Tansania und Sambia verfolgten seinerzeit ebenfalls eine Art Sozialismus, und so war das Ergebnis der Bruderhilfe eine fast 2.000 Kilometer lange Bahnstrecke.

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Der palastartige Bahnhof verleugnet seine chinesische Herkunft nicht und entspricht in seiner protzigen Größe auch eher einem Milliardenvolk. Offenbar war die Tazara für eine viel versprechende Zukunft gebaut worden: Spielend könnte die mehrgleisige Station die Menschenmassen aus Dutzenden Fernzügen verkraften, mit seinen Rampen und Auffahrten gäbe er auch das Hauptgebäude eines weltläufigen Flughafens ab. Tatsächlich starten pro Woche ganze zwei Züge. In der riesigen, lichtdurchfluteten Halle verliert sich nur eine Handvoll Leute.

 

Warten – „First Class“

Am Tag meiner Abfahrt ist der weite Vorplatz zum Bahnhof nahezu ausgestorben. Die für afrikanische Bahn- und Busstationen so typischen Händler und Garküchen fehlen völlig. Sie sind hier nicht erlaubt. Das Gelände ist eingezäunt, Wächter an den Toren lassen nur die Reisenden mit Fahrkarte durch, die sich daraufhin in der großen, gefliesten Halle versammeln. Da der Zug noch nicht da ist, dürfen die Fahrgäste jedoch nicht zum Bahnsteig weitergehen, sondern müssen sich in Reih und Glied auf den gewienerten Boden setzen. Nicht, dass wir auf die Ankunft des Zugs aus der Gegenrichtung warten müssen – schließlich ist die Bahn schon vor zwei Tagen eingetroffen. Es gebe ein technisches Problem, die Abfahrt verzögere sich ein wenig, wie uns eine Lautsprecherstimme mitteilt. Die Verschiebung macht mir nicht viel aus, denn ich muss zu keiner bestimmten Zeit in Mbeya sein. Aber ist es notwendig, anzusagen, dass ein afrikanischer Zug Verspätung hat? Das genaue Gegenteil wäre doch eine Durchsage wert.

Ich habe 1. Klasse gebucht, und so kann ich die Bereitstellung des Zuges in einer „First Class Lounge“ abwarten, deren einziger Vorzug – bereits besetzte – Ledersessel sind. Also lege ich mich auf den Teppichboden und dämmere dahin. Etwas bedauere ich doch die Verzögerung. In drei Stunden wird es dunkel sein, und so würde ich nichts von der Strecke sehen können: Denn unweit Dar es Salaams durchquert die Bahn ein riesiges Wildgebiet, das Selous Game Reserve. Es ist sehr wahrscheinlich, dort vom Zug aus Elefanten, Giraffen und Zebras zu beobachten. Doch meine Chancen für diese seltene Zugsafari schwinden zusehends.

Ein paar Minuten später geht es los. Mehrere Hundert Passagiere aller Klassen drängen mit Koffern, Taschen, Ruck- und Reissäcken auf einmal zum Bahnsteig und zu den 21 Waggons. Gleichzeitig quält sich ein Dutzend Gepäckträger mühsam damit ab, voll beladene Kofferwägelchen eine kurze Treppe zur Plattform hinunter zu hieven. Wackelig dirigieren sie ihre hohen Stapel über löchrige, halbherzig zusammengeschusterte Holzplanken. Bedrohlich schief rutschen die Wagen die Bretter hinab. Die Kofferträger bremsen und balancieren ihre Konstrukte, sodass es sich staut. Offenbar hat es in den vergangenen 35 Jahren niemand geschafft, eine simple Rampe zu bauen, um fünf, sechs flache Stufen vom Gebäude zum Bahnsteig zu überwinden. Wahrscheinlich wartet man noch auf eine ingenieurtechnische Bauanweisung aus China.

Halt in Makambako. Anders als am Bahnhof von Dar es Salaam dürfen hier Händler wieder an den Zug kommen.
Halt in Makambako. Anders als am Bahnhof von Dar es Salaam dürfen hier Händler wieder an den Zug kommen.

Nur kurz schaut der Schaffner von Wagen Nr. 2 auf meine Fahrkarte, dann weist er mir den Weg Richtung Abteil. Gespannt steige ich ein. Wer würden meine Reisepartner sein? Ich habe Glück, ja, wie sich herausstellen wird, hätte ich es nicht besser treffen können: Einer der beiden Mitreisenden in dem Vierer-Abteil ist George, ein pensionierter Eisenbahner, der sein gesamtes Berufsleben bei der Bahngesellschaft verbracht hat und die komplette Strecke kommentieren wird. Er hat bereits den Bau miterlebt, ist später Lok gefahren und hat sich bis zum Technik-Manager hochgearbeitet.

Zunächst haben wir es jedoch mit eher profanen technischen Problemen zu tun, für George eine Kleinigkeit: Die Fenster können wir zwar hochschieben, sie lassen sich aber nicht feststellen, sondern rutschen herunter. Aber was ist eine Zugfahrt durch den afrikanischen Busch ohne Fahrtwind, ohne die Möglichkeit den Kopf rauszustrecken und die Strecke zu genießen? George kann helfen. Wir müssen nur einen Stock suchen und ihn dazwischen klemmen. Und er weiß auch schon, wo er diesen Knüppel herbekommt. Kurz verschwindet er jenseits des Bahndamms und kehrt mit einem Ast in der richtigen Länge zurück. Passt.

20 Minuten später fährt der Zug ohne Vorwarnung ab, mit nur anderthalb Stunden Verspätung. Rasch lassen wir Dar es Salaam hinter uns, und ich mache mich mit dem zweiten Mitreisenden näher bekannt: Maron, ein Mann Anfang 30, stammt aus Sambia. Er leitet dort ein Hilfsprojekt für Waisenkinder und kommt gerade von einer Konferenz in Dar, wie Tansanias Metropole kurz genannt wird. Maron könnte viel schneller mit dem Flugzeug nach Hause gelangen, aber auch er möchte sich eine geruhsame Fahrt gönnen und schwärmt von den Wildtieren, die er auf der Hinreise gesehen hat. Bald werden wir durch das Selous Reservat fahren. Aber bereits jetzt dämmert es, in wenigen Minuten wird es stockfinster sein.

Die großräumigen Waggons chinesischer Herkunft sind schlicht eingerichtet: Jedes Abteil hat vier Liegen; die beiden unteren werden tagsüber zum Sitzen benutzt. In der Ablage über dem Gang kann ich meinen Rucksack verstauen, den ich sicherheitshalber an eine Stange anschließe. Extra für diese Bahnreise habe ich mir eine Kette mitgebracht.

Der junge, in Zivil gekleidete Waggonschaffner kehrt zurück. Er kontrolliert eingehend die Fahrkarten, verteilt Decken, Kopfkissen und ein Stück Seife. Später wird er für jeden von uns drei abgezählte Bonbons und eine kleine Wasserflasche vorbeibringen. Dann werden wir ihn nie mehr zu Gesicht bekommen, was wir auch an der zunehmenden Verschmutzung der Toiletten erkennen werden, für die er verantwortlich ist.

Die Bar – eine Dorfkneipe 

Schwer rattert der Zug über die Schwellen, gefährlich schaukeln die Übergänge zwischen den Waggons. Ich erkunde den Zug und schaue, wo ich Bier und Essen kaufen kann. Die Bar ist drei Wagen entfernt und erinnert an eine einfache Dorfkneipe. Sie ist bis auf den letzten Platz gefüllt, da sie – trotz Monopolstellung – preiswertes Bier für nur 1.700 Schilling, etwa 80 Cent, führt. Hinter der Theke stehen zwei riesige Kühltruhen. Darüber wird auf einem Regal mittels leerer Flaschen das Getränkeangebot vorgestellt, komplettiert durch Zahnpasta. Das Bordrestaurant befindet sich vier Waggons dahinter – doch ich entschließe mich, zusammen mit meinen Reisegefährten im Zugabteil zu essen.

Durch das offene Fenster strömt angenehm kühle Luft hinein, die einzige Lampe taucht das Abteil in schummriges Licht. George kennt jede Schienenschwelle und jede (theoretische) Abfahrtzeit. Er wird uns in den nächsten Stunden detailliert erklären, warum die chinesischen Loks nichts taugten und vielmehr amerikanische und deutsche Lokomotiven angeschafft werden mussten, um die Eigenheiten der bergigen Strecke zu bewältigen.

Ein durch den Gang geschobenes, quietschendes Wägelchen kündigt das Abendessen an. Maron und ich haben Fisch mit Reis bestellt, George hat von seiner Tochter Essen mitbekommen. In schwarzem Anzug, mit weißem Hemd und Fliege serviert uns der Kellner das Gericht. Doch bevor wir anfangen, holt er eine Plastikschüssel und eine Kanne warmen Wassers hervor: Wir können uns die Hände direkt am Platz waschen.

Draußen ist es seit mehr als zwei Stunden dunkel, der Zug rattert langsam aber stetig vor sich hin und legt wohl 50 Kilometer pro Stunde zurück. Nach ausgedehnten Gesprächen über die Fußball-WM in Südafrika und das tansanische Eisenbahnwesen werde ich müde, und richte mich für die Nacht ein. Ich kontrolliere die Kette und die Schlösser, packe meine Kamera in den Rucksack, den ich zusätzlich abschließe, und strecke mich auf der Liege aus. Die ruhigen Stimmen Georges und Marons wiegen mich in den Schlaf.

Kurze Zeit später wache ich auf. Wir haben gehalten, doch weder Licht noch ein Bahnhofsgebäude sind zu sehen. Ich höre Frauenstimmen am Gleis: „Nasi, Nasi, Nasi!“ rufen sie. George schaut hinaus und ruft eine von ihnen heran. Die beiden scheinen um etwas zu feilschen, sie diskutieren, und mit gespieltem Widerwillen akzeptiert die Frau schließlich den Preis. Daraufhin hängt sich George weit aus dem Fenster, der Zug ist hoch, und einen Bahnsteig gibt es nicht. Strahlend hievt er eine Kokosnuss durch die Luke, weitere folgen – bis der Tisch voll ist: „Die kosten hier nur halb so viel wie bei mir zu Hause!“, sagt er erfreut, bevor er sie unter der Liege verstaut. George kennt das Preisgefüge der gesamten Bahnstrecke: Mitten in der Nacht, es ist drei Uhr und die Lokomotivführer wechseln gerade, wie mir George erklärt, kauft er mehrere Portionen Trockenfisch. Die braunen, undefinierbaren, gepressten Platten sehen nicht sehr appetitlich aus. Ich rümpfe die Nase, doch tatsächlich wird die Nachtruhe durch keinerlei Gerüche beeinträchtigt. Die bullige Hitze ist längst aus dem Abteil gewichen, ich ziehe mir die Decke über den Kopf und strecke mich im Bett aus. Georges Einkaufsliste scheint abgehakt zu sein.

Endlich sehe ich was

Kurz vor sechs Uhr wache ich auf, George und Maron schlafen noch. Ruckartig geht mein Blick zu meinem Gepäck. Alles ist noch da. Es wird hell, und zum ersten Mal seit der Abfahrt kann ich etwas von der Strecke sehen. Ausgeruht setze ich mich ans Fenster: Nebel liegt über dem fruchtbaren Hügelland. Feucht, dunstig und verschwommen präsentiert sich die Landschaft, die Baumkronen reflektieren die ersten Sonnenstrahlen. Das Land ist dünn besiedelt, es gibt nur wenige Dörfer. Unablässig windet sich der Zug durch den Busch.

Nach einer Stunde öffnet George die Augen. Ein geübter Blick ins Nichts zeigt ihm, dass sein Heimatort Makambako noch anderthalb Stunden entfernt ist. Dort nehmen wir von ihm Abschied. Zum Glück ist im Nachbarabteil ein Freund aus seinem Ort mitgefahren, alleine könnte er die Einkäufe nicht nach Hause tragen. Es ist ein merkwürdiges Aufeinandertreffen: Während George voll beladen dem Zug entsteigt, dürfen hier die voll beladenen Händler bis an den Zug kommen, um Kokosnüsse und Trockenfisch, aber auch Bananen, Mango, Süßigkeiten und Getränke anzubieten – ebenso wie Samosa, köstliche Teigtaschen mit Hackfleischfüllung, bei denen ich nie beurteilen kann, wie viele Tage sie schon in der Schüssel des Verkäufers schmoren. Obwohl es bald Frühstück gibt, decke ich mich mit Proviant für die nächste Etappe ein.

Frühstück am offenen Fenster.
Frühstück am offenen Fenster.

Weiter schlängelt sich der Zug durch grüne Landschaften, der livrierte Kellner serviert das Essen: warme Würstchen, Omelette, Spaghetti, Toastbrot und Kaffee. Bis Mbeya sind es noch 200 Kilometer. Stundenlang schauen wir aus dem Fenster, auf Hütten und Felder. Monoton rattert der Zug über die Schwellen, sodass Maron und ich wegdösen.

Wie es nach der Fahrt mit der Tazara weiterging, erfahrt Ihr in meinem Buch:

„The Wings of Kilimanjaro: Im Schrottbus, Kolonialdampfer und Bummelzug durch Ostafrika“