Deutschland ist bürokratisch? Beim Regulieren scheint Australien gründlicher vorzugehen als wir. Nichts ist mehr zu spüren von gesetzloser Buschromantik, wo jeder machen kann, was er will. Für jeden Handgriff brauchen die Arbeiter ein spezielles Zertifikat, schimpfen Australiens Unternehmer. „Ticket“ ist das wichtigste Schlagwort auf den Baustellen des fünften Kontinents geworden.

Andies Baufirma GBC Civil PTY Ltd. vergräbt am Rande des Outbacks mit vier Mitarbeitern eine Wasser-Pipeline – vom Stausee zum Wasserturm und dann zu den Hausanschlüssen. Reißt er beim Rohrverlegen eine Straße auf oder verengt für einige Stunden eine Kreuzung, kann der Verkehr nur einspurig fließen – falls es Verkehr gäbe: Selbst wenn nur zwei Autos pro Stunde die Staubpiste passieren, müssen wir alle an einem staatlichen Traffic-Control-Seminar teilnehmen, im Wesentlichen um zu wissen, wie wir ein Stop-and-Slow-Schild korrekt halten.

Die polizeiähnliche Aufsichtsbehörde WorkCover hat solche und andere Arbeitsschutzvorschriften deutlich verschärft. Drastische Strafen, die eine Firma schnell ruinieren können, sollen helfen, „die sichersten Arbeitsplätze der Welt zu schaffen“. Denn in der Vergangenheit ging es auf den Baustellen ähnlich locker zu wie am Bondi Beach. Folge: zu viele Arbeitsunfälle. Das soll sich nun ändern. Mitverantwortlich für die aktuelle Verordnungswut – über die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen stöhnen – ist die oft fehlende Berufsausbildung. Gerade auf dem Bau sind häufig Quereinsteiger, Hilfsarbeiter und Tagelöhner tätig. Das Wissen, das in Deutschland während der Lehre vermittelt wird, muss man sich in Australien durch Extra-Kurse aneignen. Einen weiteren Grund für die Regulierungslawine sieht Andie in der aus den USA kommenden Praxis, sich bei Unfällen teuer zu verklagen. Man glaubt, sich durch vorgeschriebene Schulungen und Lizenzen, die tickets, dagegen abzusichern.

Der gut gemeinte Sicherheitswahn treibt seltsame Blüten: Als einer von vier Angestellten in Andies Outback-Firma kümmert sich Martin ausschließlich um Arbeitsschutz und das Einhalten von Vorschriften. Er ist der obligatorische Safety Officer. Zu seinen Aufgaben gehört vor allem das ständige Kontrollieren, ob alle die orangefarbene Signalweste und den Helm tragen. Das wird auch dann verlangt, wenn die Angestellten – fern von allen Baumaschinen – mitten auf freiem Feld mal eine Kiste aus dem Auto laden. Es könnte ja ein WorkCover-Kontrolleur aufkreuzen, und die Angst vor den Beamten steckt allen in den Gliedern. Martins Lieblingsbeschäftigung – und ebenfalls zwingend staatlich vorgeschrieben – ist es, einen Versammlungspunkt einzurichten, an dem sich die vier Bauleute nach einem Unglück treffen sollen. Diesen Fluchtpunkt symbolisiert eine in den Boden getriebene Eisenstange mit einem Kegel als Signalspitze. Wird die Pipeline mehrere hundert Meter am Tag vorangetrieben, wandert der Versammlungsort ständig mit. Natürlich muss er weit genug von der potenziellen Unglücksstelle entfernt sein: Wenn links und rechts der Trasse eine ausgedehnte morastige Wiese liegt, dann muss es genau dort sein – auch wenn die Flüchtenden eine Machete bräuchten, um durch das hohe Gras zum rettenden Ziel zu gelangen. Es sollen schon mehr Bauleute durch Schlangenbisse am Versammlungsort umgekommen sein, als durch einen Unfall.

Um ein Baufahrzeug zu führen, benötigen die Arbeiter eine Extra-Genehmigung – der normale Lkw-Führerschein reicht nicht aus. Darf jemand einen Bagger fahren, gilt dies nicht automatisch für die Planierraupe. Jedes einzelne Ticket muss Robert ständig am Mann tragen, das Portemonnaie ist so dick, als habe er alle gängigen Kreditkarten bei sich. Die Schulung müssen sie regelmäßig wiederholen, worüber sich natürlich die Anbieter entsprechender, kostenpflichtiger Kurse freuen. Oft finden diese Seminare in einem gesichtslosen Gewerbebau im nächsten Ort statt, manchmal aber auch in Andies Wagenburg am Lagerfeuer.

Die Hände reiben sich auch die Elektriker, die aufgrund eines Gesetzes kaum noch mit der Arbeit hinterherkommen: Alle elektrischen Geräte auf dem Gelände einer Firma müssen monatlich überprüft werden. In Deutschland ist das nur einmal im Jahr nötig. Das betrifft nicht nur Bohrmaschine oder Kreissäge, sondern in Andies Fall auch alle Apparate in der Unterkunft der Bauarbeiter. Folglich müssen die vier Kühlschränke abgenommen werden, aber auch der Fernseher, der Toaster, die Mikrowelle und der viel benutzte, natürlich elektrische Grill. Insgesamt schaut sich der Elektriker 17 Haushaltsgeräte an, wobei er nur kurz überprüft, ob das Kabel noch in Ordnung ist. Allein das „TÜV-Schild“, das jeden Netzstecker verunziert, kostet einen australischen Dollar. Der Elektriker erhält für seine Arbeit 100 Dollar (etwa 70 Euro) – schnell verdientes Geld.

Martin Prellberg, Dozent und Prüfer für Arbeitsschutz, hat ebenfalls viel zu tun. Er leitet das berüchtigte OHS-Training, Occupational Health and Safety. Ohne den erfolgreichen Abschluss seines Arbeitsschutzkurses darf keiner den Finger krumm machen – egal ob Baggerfahrer, selbstständiger Maler oder Verkäuferin im Baumarkt. Prellberg führt auch durch unser eintägiges Traffic-Control-Seminar – vorgeschrieben von der Roads and Traffic Authority (RTA) des Bundesstaats New South Wales. Zunächst gibt der staatlich vereidigte Dozent einen Überblick über die wichtigen Utensilien: das Stop-and-Slow-Schild, die grelle, reflektierende Schutzweste und ein Walkie-Talkie zum Kommunizieren mit dem Kollegen. Obligatorisch – und dem theoretischen australischen Klima geschuldet – sind Kopfbedeckung, Sonnenbrille, langärmeliges Oberteil, lange Hosen, sicheres Schuhwerk und Sonnencreme mit Sonnenschutzfaktor von über 30. Zudem müssen je ein Logo des Arbeitgebers und der RTA auf dem Oberteil des Verkehrskontrolleurs prangen. Beispielfilme und Grafiken erläutern die Rechte, Vorschriften, Handzeichen und korrekten Prozeduren einzig und allein dafür, wie wir an einer auf eine Spur verengten Straße ein Auto stoppen und nach einiger Zeit weiterfahren lassen.

Fast den halben Tag verbringen wir Seminarteilnehmer allerdings mit Bürokratie, die Zettelwirtschaft ist so aufwändig, als beantragten wir eine neue Staatsbürgerschaft: Zuerst füllen wir ein Formular aus, das die Frage beantwortet, ob wir zu Hause eine andere Sprache als Englisch sprechen: „Arabisch, Kantonesisch, Hindi oder Tagalog?“ Deutsch gilt hier als ausgestorben und ist nicht vorgesehen. Dann tragen wir uns in eine Teilnehmerliste ein, auf die eine separate Namens- und Unterschriftenliste folgt. Schließlich gibt der Prüfer das RTA-Antragsformular für die Lizenz herum. Anschließend markieren wir einen DIN-A4-Zettel mit unserer Registriernummer und unterschreiben großformatig. Als kämen wir in eine Straftäterkartei, halten wir das Blatt vor unsere Körper und werden zur Identifizierung fotografiert. Weiterhin reicht der Dozent ein Antragsformular des halbstaatlichen Veranstalters zur Teilnahme an dem Kurs aus, bevor wir eine Stellungnahme zum Abschluss des Seminars ausfüllen müssen. Später erhalten wir alle ein Traffic-Control-Logbuch, das wir künftig bei uns führen und in dem wir alle Einsätze dokumentieren müssen. Dort trägt jeder seinen Namen und die offizielle Registriernummer ein. Am Ende bittet der Dozent um eine schriftliche Einschätzung seiner Arbeit.

Die Prüfung des gelernten Stoffs ist völlige Nebensache: Der Test besteht aus einem Dutzend einfacher Fragen nach dem Multiple-Choice-Verfahren; Abschauen beim Nachbarn und Vorsagen des Prüfers inklusive.