Das Royal Mail Hotel II: Die Kneipe
Die Gäste stehen Schlange, um sich am Feuer aufzuwärmen. Frost steckt ihnen in den Gliedern, zitternd hüpfen sie von einem Fuß auf den andern: Halb Lake Cargelligo taut im Royal Mail Hotel auf; und der lodernde Kamin macht den Pub zur gemütlichen Stube. Einige Kunden scheinen hier zu wohnen und am Tresen festgewachsen zu sein; längst geschiedene Eheleute teilen wieder den Tisch.
Der Pub ist mit allem ausgestattet, was eine australische Kneipe braucht: mehrere Fernsehgeräte an der Decke, eine Spielautomaten-Abteilung und Dart-Ecke, eine Australienkarte an der Wand und vergilbte Gruppenfotos der örtlichen Rugbymannschaft The Tigers. Allein die Öffnungszeiten und der Takt der Besucher sind mir ein Rätsel. An manchen Freitagen – welch Wunder – ist das Lokal brechend voll, eine Woche darauf langweilen sich nicht mal zehn Leute an der Theke. Ein voller Freitag garantiert keinen bombigen Sonnabend – der ohnehin der Wochentag zu sein scheint, an dem am wenigsten los ist, so dass Jimmy, der Kneipenbesitzer, am frühesten schließt, meist um 22 Uhr. Trotzdem schenkt er uns fünf Minuten, bevor er uns rausschmeißt, noch Bier aus. Mitten in der Woche tobt dann unvermittelt bis Mitternacht das Leben. Länger geht es nie, denn dann ist Sperrstunde. Obwohl ich selten im Gastraum bin, weiß ich genau, was sich dort abspielt, denn mein Bett befindet sich direkt über der Kneipe.
Das Wichtigste im Pub, sonst würde das Geschäft nur halb so gut laufen, ist allerdings die Bedienung, die Barmaids. Schließlich ist es Andie, Robert und Martin – Bill ist der Pub zu teuer – nicht egal, wer ihr Bier serviert. Jeden Abend fragen sie sich in ihrem Camp: Wer hat wohl heute Dienst? Bei Jimmy stehen nur Frauen hinter der Theke, denn es hebt den Umsatz deutlich, wenn die Stammzecher verfolgen können, wie sich die Mädchen nach einer Bierflasche aus dem Kühlschrank bücken. Zur besseren Unterscheidung bekommt jede von uns ihren Spitznamen:
Die Dyke heißt so, weil sie die anderen mit ihrem kantigen Gesicht und kurzen Haaren an eine spröde Lesbe erinnert. Dabei hat sie bereits ein Kind. Hauptberuflich arbeitet sie im Supermarkt.
Die German wollte am ersten Abend von mir wissen, was „How are you going?“ auf Deutsch heißt. Seitdem begrüßt sie mich mit einem fröhlichen und akzentfreien „Wie geht es dir?“ und sagt „Danke“. Als ich ihr einmal nach Ausschankschluss „Good bye“ übersetzen sollte, wusste ich, dass ich lieber das Feld räume. Sie ist die Netteste von allen – eigentlich sogar die einzige Nette.
Das Model ist einfach nur schlank, hübsch und natürlich arrogant. Mehr erfahren wir nicht über sie, denn sie tut nur das nötigste und ist nicht sehr gesprächig.
Heidi ist Heidi, früher hieß sie Heinz (Tochter vom deutschstämmigen BP-Tankwart). Jetzt ist sie verheiratet und hat zwei Kinder. Trotzdem meint Andie, der doppelt so alt ist wie sie, bei ihr landen zu können. Sie ist der Hauptgrund, weswegen er in die Kneipe geht. So hat sich das Jimmy auch gedacht.
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