Mopti > Timbuktu. Eingedeckt mit zwei Kartons Wasserflaschen kehren Martin und ich zur verabredeten Abfahrtszeit um 13 Uhr nach Mopti zurück. Hammidou, der Kapitän, geht jedoch erst einmal mit seinen Leuten zum Freitagsgebet. „14 Uhr“, vertröstet er uns. Wir wollen nicht im Schiff schmoren, also ziehen wir ins benachbarte Re­staurant.

Der Hafen von Mopti liegt vor uns. Dicht zwängen sich die Holzboote aneinander. Kein Zentimeter Liege­fläche bleibt ungenutzt. Von hier möchten wir nach Timbuktu starten. Doch nicht nur die Geschichte der Stadt ist etwas verzwickt, sondern auch das Hinkommen: Jetzt im Oktober, kurz nach der Regenzeit, sind alle Pisten schwer passierbar. Feste Straßen nach Timbuktu gibt es nicht, vielleicht auch, weil das Baumaterial für die Schwellen und Buckel an den Straßensperren draufgegangen ist. So bietet der Niger den einzig verlässlichen Verkehrsweg. Der größte Fluss Westafrikas entspringt in den Bergen des Nachbarlandes Guinea, nur wenige Hundert Kilometer vom Meer entfernt, fließt aber – der Verlauf ähnelt einem Bumerang – über 4.200 Kilometer nach Osten. Erst in Nigeria mündet der Silberne Strom in den Atlantik.

Vom Chez Bozo aus können wir zurückgelehnt dem Treiben auf unserer Pinasse zuschauen. Der zwei Meter tiefe Bauch des Schiffes, das wie ein überdimensionaler Einbaum aussieht, ist inzwischen mit Benzinfässern, Ze­ment- und Reissäcken gefüllt. Letztere dienen gleichzeitig als formbare Liegefläche. Auf das halbrunde Dach aus Rohrgeflecht hieven die Fahrgäste Bretter, Einzelteile von Ehebetten, Schubkarren, Mopeds … alles findet seinen Platz und hoffentlich auch seinen Halt. Familien bringen ihre Habe an Bord und stecken zwischen den Holzbalken, die die Pinasse quer zusammenhalten, ihre Reviere ab. Bei dem Touristenpreis, so denken wir, brauchen wir uns darum zum Glück keine Sorgen zu machen.

Wir zahlen das Doppelte – und bekommen keinen Platz

Um 16 Uhr holt uns Hammidou ab, wir nehmen unser Gepäck, doch nun gibt es ein Problem: Wie wir es die ganze Zeit verfolgen konnten, ist das Schiff jetzt voll, alle Passagiere haben sich prächtig eingerichtet. Für uns ist kein Platz mehr frei. Dass wir das Doppelte aller anderen Mitfahrer bezahlt haben dürften, hat der Kapitän nicht honoriert. Hammidou greift zu drastischen Schritten: Eine heftig protestierende Familie, die sich zu breitgemacht hat, muss zusammenrücken. Wir klemmen uns zwischen sie und die Bordwand, atmosphärisch gesehen ein schlechter Einstand für eine dreitägige Tour Haut an Haut.

Ohne weitere Verzögerung verlassen wir zügig den Hafen und fahren auf den Bani, der kurz darauf in den Niger mündet. Der Fahrtwind lässt die Hitze schnell vergessen, doch gerade an Fahrt gewonnen, drosselt die Pinasse ihr Tempo und steuert Richtung Ufer: Ein Polizeiposten ist zu passieren, Papie­re vorzuzeigen – und das dauert. Erst gegen 17 Uhr starten wir. Auf nach Timbuktu, la Mystérieuse!

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Nach wenigen Minuten entfliehe ich der Enge des Decks und lasse mir von Hammidou zeigen, wie ich mich gefahrlos aufs Dach hangele, denn es gibt keine Leiter. Oben kann ich umherlaufen und ideal die Umgebung beobachten. Dörfer mit Lehmhütten, Fischer auf ihren Einbäumen und kleine Minarette ziehen an uns vorbei. Das lärmende Mopti liegt hinter uns; vor uns, sagt der Kapitän, hätten wir mindestens drei Tage Fahrt bis Timbuktu. Zwei auf seiner Issa Maiga und einen auf einer anderen Pinasse, die direkt bis in die Wüstenstadt fährt. In der Stadt Diré würden wir umsteigen, das hatten wir so vereinbart, Hammidou wird dort auch die Bezahlung regeln. Genug Wasserflaschen haben wir jedenfalls.

In der Bordküche wird am offenen Feuer gekocht. Beim Beladen hatte die Besatzung dafür einen zwei Meter breiten Streifen freigelassen. Riesige Kessel stehen bereit, um die Großfamilien mit Reis und Soße, etwas Fleisch oder Fisch zu versorgen. Doch meine Blicke konzentrieren sich auf den Boden der Issa Maiga, der sich stetig mit Was­ser füllt. Ein Junge versucht ununterbrochen, alles wieder in den Flusslauf zu schaufeln. Sobald die menschliche Pumpe aufhört, steigt der Wasserstand erneut unbarmherzig an.

Wo schlafe ich?

Gegen 18 Uhr geht die Sonne unter, früh ist der Tag zu Ende. Es gibt kein Licht, und der Hunger ist uns vergangen. Denn gekocht wird mit Flusswasser, was mich trotz der mehreren Millionen Menschen, die im Einzugsgebiet des Stromes leben, weniger beunruhigt, als die Bilarzhiosegefahr. Die Familie neben uns ist nicht gesprächig. Sie ist immer noch verärgert, dass wir einige Quadratzentimeter ihres erstrittenen Terrains benötigen. Dabei haben wir gerade einmal Platz zum Sitzen – erst jetzt stellt sich die Frage: Wo können wir schlafen? Alle anderen Mitreisenden hatten sich schon beim Einsteigen mit entsprechendem Raum versorgt. Aus der stabilen Seitenlage sehen sie uns zu, wie wir erneut nach dem Kapitän Ausschau halten. Hammidou inspiziert die Fläche und bemerkt, dass er ein paar Passagiere zu viel an Bord hat. Für einen von uns beiden ist kein Schlafplatz vorhanden.

Es bleibt nur das Dach übrig. Mit Hammidou hieve ich mich hoch. Er führt mich zur Bootsspitze, wo etwas Ladefläche frei ist. Fröhlich bietet er mir an, auf dem Halbrund meine Nacht zu verbringen. Der nur einen Meter breite Streifen ist mir jedoch zu unsicher: Eine falsche Bewegung und ich rolle im Schlafsack in die Billarzhiose. Ein Trost wäre es, dass an dieser Stelle schon lange keine Krokodile und Flusspferde mehr gesichtet wurden. Dankend lehne ich ab, wir suchen weiter. In der Bootsmitte sind einige Bretter und Reissäcke am Dach verschnürt. Dies verspricht ein waagerechtes und vor allem stabiles Nachtlager. Ich nicke, und Hammidou ebnet mir die Säcke zu einer Schlafstatt. Er beteuert, dass ich darauf bedenkenlos die Nacht verbringen könne, alles sei sicher verzurrt. So lasse ich mich wie auf einem Thron nieder und habe den exklu­sivsten Schlafplatz des Schiffs, mit frischer Luft und Aussicht auf die vom Vollmond beleuchtete Umgebung.

In der Nacht wache ich von dumpfen Hammerschlägen auf. Am Ufer treibt die Besatzung Bolzen in den Boden, sie vertäuen das Boot. Wir liegen kurz vorm Lac Debo, einem großen Binnensee, den der Niger geformt hat. Es stürmt, und da sich auf dem See hohe Wellen bilden könnten, ist eine Weiterfahrt zu gefährlich. In einigen Stunden legen wir ab, ruft mir Hammidou hoch, und als gelte es, keine Zeit zu verlieren, stürzen sich sofort Mücken auf mich, die der Fahrtwind bisher außen vor gelassen hat. Nur ein paar, aber genug, um mich zu ärgern. Ich sorge mich jedoch weniger um Malaria, als dass ich in meinem Schlafbedürfnis gestört werde. Ich muss mich komplett zudecken, doch die Hitze wird unerträglich. Plötzlich höre ich ein reißendes Geräusch. Durch mein schlafloses Drehen und Wenden hat sich die Liegefläche gelockert. Bretter, die seitlich meine Schlafstatt eingegrenzt hatten, poltern das Dach hinunter – in Richtung Wasser, und das wird teuer. Ich sehe mich schon Regressforderungen des erzürnten Besitzers ausgesetzt, doch im letzten Moment hält eine Strippe. Das Holz taucht nur mit der Spitze in den Niger ein. Dafür purzelt meine Taschenlampe in die Fluten. Glücklicherweise stehen wir, das Fahrwasser hätte die Ladung mit sich gerissen. Durch den Krach aufgeschreckt, schauen zwei Mitfahrer unter dem Dach hervor, mit deren Hilfe ich das kostbare Mobiliar wieder in die Ausgangslage bringe. Doch zum Weiterschlafen ist mir die Konstruktion zu wackelig. Zudem droht mir der Eigentümer vom Ufer: „Morgen werde ich genau kontrollieren und nachzählen, ob noch alle Teile da sind!“

Es ist Vollmond, und so kann ich mich ohne meine Taschenlampe zum nächsten Haufen verschnürter Haushaltsgegenstände vorarbeiten. Eines dieser Ehebetten wäre jetzt gut, allerdings sind sie in ihre Einzelteile zerlegt worden. Auf der Rückseite eines Schranks finde ich dafür zwar keine weiche, aber wenigstens eine ebene Fläche vor, um nicht doch ins Wasser zu stürzen. Eine zusammengerollte Matratze formt ein Kopfkissen. Meine schiefe Liegestellung entspricht zwar nicht meiner Anatomie, doch die Mücken lassen mich ohnehin nicht schlafen. Erst gegen zwei Uhr setzt die Pinasse ihre Fahrt fort. Der Lac Debo hat sich beruhigt, ich schlummere ein.

Ein Polizist kassiert ab

Kurz nach sechs Uhr wecken mich die ersten Sonnenstrahlen. Bestes Fotolicht. Wir haben fast den ganzen See überquert, und bei schönster Morgensonne möchte ich kein Motiv auslassen. Das Ufer mit einigen Dörfern kommt näher, Pirogen kreuzen unseren Weg. Auf dem Dach hangelt sich die Besatzung entlang. Mein Finger lässt den Auslöser nicht mehr los.

In Aka, einem Dorf am Ausgang des Lac Debo, legen wir an. Säcke werden ausgeladen, Leute steigen zu, die örtlichen Fischer verkaufen ihren Fang an die Passagiere – und die Polizisten in dem verschlafenen Buschnest sind froh, einen auf dem Dach herumturnenden Weißen zu ent­decken. Sie rufen mich zu sich. Nach dem obligatorischen, noch lächelnd ausgetauschtem „Ça va?“, „Ça va!“ kommen sie zur Sache: „Votre passeport s’il vous plaît!“

An meinen Papieren lässt sich nichts beanstanden. Mein Visa ist nach einer guten Reisewoche immer noch gültig, in Mopti hatte ich mir den überflüssigen Melde­stempel abgeholt, und auf dem Passbild können sie mich offensichtlich auch identifizieren. „Pech für sie“, denke ich an meine Reisekasse.

„Aber Sie besitzen sicher eine Fotoerlaubnis?“, fragen sie siegessicher und zeigen auf meine Kamera.

„Die gibt es doch seit Jahren nicht mehr“, erwidere ich. Über die klassischen Schikanen, um Mali endlich frei von Touristen zu machen, habe ich mich vorher informiert.

„Aber Sie haben doch fotografiert?“

„Ja natürlich, das ist doch nicht verboten, und seit langem braucht man dafür auch keine Genehmigung mehr!“

„Doch! Und außerdem haben sie ja die Polizeistation abgelichtet.“

„Ja, schon, aber das ist doch eine Hütte wie jede andere. Das ist von außen, noch dazu aus weiter Entfernung, nicht zu erkennen.“

„Wenn Sie über keine Fotoerlaubnis verfügen, geben Sie uns eben die Filme“, droht mir der, sicher gegen seinen Willen hierher versetzte, Polizist.

„Nein, ich habe doch nichts Verbotenes gemacht.“

Soviel Widerspruch bringt den Blutdruck meines Gesprächspartners auf einen Spitzenwert, schließlich ist er hier, 100 Kilometer von der Straße entfernt, das Recht: „Bitte holen Sie Ihr Gepäck vom Schiff. Sie steigen hier aus!“, sagt er trocken.

Einen Zwischenstopp habe ich aber gar nicht eingeplant, und da ich keine Lust habe, hier auf die nächste Pinasse zu warten, antworte ich: „Nein, warum? Ich fahre doch nach Timbuktu.“

Der wortführende Polizist geht in die Luft und schreit: „Ich bin hier der Repräsentant der Republik Mali. Und Sie machen, was ich sage!“ Bevor die beiden explodieren, zieht mich der hinzugeeilte Kapitän aus der Lehmhütte der Staatsmacht: „Das lässt sich doch klären …“

„Wie viel?“, frage ich und gebe ihm, ohne auf eine Antwort zu warten, 2.000 Francs, immerhin mehr als ein Tageslohn. Solch beeindruckende Repräsentanz der Republik Mali hat mich sofort überzeugt.

Sekunden später kommt Hammidou mit meinem Pass aus der Hütte wieder. Schnell steigen wir ein, der Motor wird angeworfen, und ich bin froh, einen derartig hilfsbe­reiten Kapitän zu haben. Gut, dass ich ihm zwei einzelne 1.000 Francs-Scheine gegeben habe.

Reis und Fisch und Nigerwasser

Martin und ich dösen unterm Dach, wir lassen die Dörfer an uns vorüberziehen, plaudern mit Hammidou und der Familie neben uns, die sich inzwischen mit unserer Mitreise abgefunden hat. Zum Mittag gibt es Reis und Fisch – mit original Nigerwasser gekocht, doch irgendetwas müssen wir schließlich essen. Ich weiß, dass mein Magen einiges aushält, auch dieses Mal.

Am Nachmittag klettere ich wieder aufs Dach und verfolge fotografisch das An- und Ablegen. Ich habe mir versichern lassen, dass heute keine Polizeistation mehr auf der Strecke liegt. Nur eins ist immer noch ungewiss: wann wir wo ankommen, umsteigen oder übernachten würden? Ständig sagt mir der Kapitän etwas anderes. Jedenfalls ist vorgesehen, am nächsten Abend in Diré in die zweite Pinasse nach Timbuktu umzusteigen. Der Zeitplan ist mir egal. Ich möchte nur grob wissen, worauf ich mich einzustellen habe, auch wegen unseres Trinkwasservorrats, der stündlich schrumpft.

Mit Tuaregs unterwegs. Diese hier sind allerdings aus Libyen.
Mit Tuaregs unterwegs. Diese hier sind allerdings aus Libyen.

Obwohl wir uns Timbuktu und der Sahara kontinuierlich nähern, wird die Landschaft nicht karger. Selbst in den nördlichen Landesteilen Malis hat die Regenzeit viel Grün entstehen lassen. Flache Felder bestimmen die Uferzone, die typischen rötlichen Sanddünen sind noch nicht in Sicht. Am Abend erreichen wir das Städtchen Niafunke. Der Naturhafen und ein Dutzend Pirogen, die uns entgegenkommen, um Fracht und Leute ans Ufer zu bringen, glänzen in der Abendsonne. Erst am nächsten Morgen soll es weitergehen. Hammidou hat vorgesehen, dass wir in einem Campement unterkommen, einem einfachen Hotel. Eine feste Übernachtung sehne ich mir auch deswegen herbei, weil ich gerne das Moskitonetz aufgespannt hätte.

Doch wieder kommt es anders: Die Pinasse, auf die wir in Diré umsteigen sollen, liegt bereits in diesem Hafen vor Anker. Rasch müssen wir das Boot wechseln. Ungläubig, ob solch überraschender Schnelligkeit, raffen wir unsere Sachen zusammen, zur Freude der Familie neben uns, die umgehend die freie Fläche in Beschlag nimmt.

Wir gehen mit Hammidou am Ufer entlang, er möchte das Restgeld. Doch wir wollen erst bezahlen, wenn wir das neue Boot gesehen haben – und vor allem über ausreichenden Platz zum Ausstrecken verfügen. Es gibt genügend Beinfreiheit – nachdem diesmal zwei niederländische Touristen zusammenrücken mussten, die daraufhin jegliche Konversation mit uns einstellen. Schnell wird der Motor angeworfen. Obwohl Hammidou, der das Umsteigemanöver organisiert hat und gerade sein Geld zählt, sich noch an Bord befindet, verlässt das Boot den Hafen. Im letzten Moment schafft er es, sich mit einer im Schlepptau befindlichen Piroge an Land zu retten.

Ich bin froh, dass die Pinasse die ganze Nacht durchfährt, so sind wir vor Hitze und Mücken sicher. Anderthalb Tage bis Timbuktu, ungefähr, so sagt man uns.

Der Mond beleuchtet die Szenerie. Der Fluss ist be­wegt und das Boot völlig überladen. Ich habe mich direkt am Rand des Schiffs ausgestreckt, zwischen Bordkante und Wasseroberfläche ist gerade eine Handbreit Platz. Ab und an schwappt Wasser herein. Auch hier höre ich unablässig jemanden das Boot trocken schaufeln. Ich polstere mich bequem auf einigen Reissäcken. „Die guten Schlafbe­dingungen muss ich nutzen“, denke ich. „Wer weiß, was morgen alles passiert und wie lange wir bis zum Ziel brauchen?“ Rasch schlafe ich bei frischem Fahrtwind ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind wir am Hafen von Timbuktu. Genauso wie möglicherweise der Leser dieses Berichts bin auch ich enttäuscht, wie zügig und überpünktlich wir angekommen sind. Ich hatte mich so auf einen weiteren Tag auf dem Fluss gefreut.