Als kehrte sie nie wieder, brennt sich die untergehende Sonne in mir ein. Sie flutet ins Auto, glutrot reflektieren die Felsen ihre Strahlen, nur gebrochen durch den Staub, den die Fahrzeuge vor uns aufgewirbelt haben. Der feine Sand hat das grüne Buschland verschluckt, und auch das Innere des Wagens erfasst. Es macht keinen Unterschied, ob wir das Fenster aufhaben oder zu, der Flugsand findet seinen Weg hinein. Sitze und Kleidung haben die Farbe der trockenen Piste angenommen.

Die Falaise ist 200 Meter hoch, 200 Kilometer lang und 50 Kilometer breit.
Die Falaise ist 200 Meter hoch, 200 Kilometer lang und 50 Kilometer breit.

Wir winden uns ins Bergland hinauf, hoch auf das Plateau des riesigen Felsmassivs, der Falaise de Bandiagara. Dort landen wir im gemachten Nest: Noch am Morgen war ich im lärmigen Mopti beinahe von Straßenjungs verprügelt worden, jetzt sitzen wir im Innenhof des Campement-Hotels in Sanga, als seien wir auf einer Hazienda. Grillen zirpen, ein leichter Wind erfrischt uns, wir trinken kaltes Bier und essen ein dreigängiges Menü, darunter Hühnchen und Couscous. Einen Führer für die nächsten beiden Tage vermittelt uns Mohammed ebenfalls gleich: Mit Khalid handeln wir einen guten Preis aus und sind uns sicher – da er der Sohn des hiesigen Dorfältesten ist –, dass er uns ausgezeichnet durch das Gewirr der Schluchten, Felsen und Dörfer leiten wird. Wir gehen früh ins Bett, denn wegen der großen Hitze tagsüber müssen wir bereits um sechs Uhr loswandern.

Ein riesiger Felsblock

Ein 200 Kilometer langer und 50 Kilometer breiter Felsblock – französisch: Falaise – formt das Dogonland. Auf seiner Südseite stürzt er 200 Meter steil in die Tiefe, teilweise senkrecht. An den Rändern, in den Ausläufern und auf dem Plateau siedeln die Dogon, ein Volk mit einer eigenen, monotheistischen Religion und für den Außenstehenden mystischen Lebensprinzipien. Allerdings ist ein Teil des Volks in den vergangenen Jahrhunderten islamisiert worden. Ihr unwegsames Stammesgebiet und ihre Eigenständigkeit haben jedoch geholfen, dass sich viele Riten ihres komplexen Glaubens bis heute erhalten haben. Der Ahnenkult ist für sie zentral.

Obwohl der Tag erst erwacht, ist es schon heiß. Wie stark wird wohl die Sonne zur Mittagszeit auf unsere Körper brennen? Doch bevor wir starten, belehrt uns Khalid, dass wir ohne seine Erlaubnis keinen Meter vom Weg abkommen dürften. Vor allem in den Dörfern gebe es etliche heilige Orte – die Martin und ich nicht erkennen würden. Ein falscher Schritt von uns und die Stätten wären entweiht, was wir nur mit einer aufwendigen – und kostenintensiven – Zeremonie wiedergutmachen könnten. Ehrfürchtig nicken wir und treten genau in seine Fußstapfen.

Die Dorfältesten beim morgendlichen Lesen von Tierspuren. Dazu wurde das Feld zuvor parzelliert, jeder Teil hat eine Bedeutung.
Die Dorfältesten beim morgendlichen Lesen von Tierspuren. Dazu wurde das Feld zuvor parzelliert, jeder Teil hat eine Bedeutung.

Gleich hinter dem Dorf hocken fünf alte Männer am Wegesrand, konzentriert diskutieren sie die Fährten eines Schakals – so deuten sie die Zukunft. Am Vorabend hatten sie dazu extra ein Feld parzelliert und mit einem Dutzend Symbolen versehen. Je nachdem, wo das Tier entlanggelaufen ist, interpretieren die Stammesältesten die Spuren, um Prognosen über die kommende Zeit anzustellen.

alex-tannen-mali-11

Doch sie debattieren lange, wir ziehen weiter, und nachdem wir einige Dörfer passiert haben, reibe ich mir kräftig die Augen – vor uns liegt ein Teich voller Seerosen, der nicht in diese trockene Gegend passt. Ein Bach speist den romantischen, kleinen Stausee; über die Kante der Falaise entlädt er sich in die Tiefe. Wir folgen Khalid durch einen 200 Meter langen natürlichen Tunnel, der unter dem Plateau vom Dorf zur Außenseite führt. Weit oben in den Felsen, geschützt vor Feinden, zeugen einst bewohnte Höhlen von kriegerischen Zeiten. In den Behausungen haben jedoch nicht die Dogon gelebt, die hier erst seit rund 500 Jahren siedeln, sondern die Telem, Pygmäen ähnliche Menschen. Nur mit Seilen gelangten sie aus ihren „Schwalbennestern“ auf den Boden. Die Dogon haben die Telem vertrieben, verehren sie aber bis heute.

Ausgestorbene Dörfer

In der Mitte eines jeden Dorfs stehen die traditionellen Togunas, offen gebaute Versammlungsstätten mit acht Säulen, an jeder Seite drei. Wie zu groß geratene Storchennester türmen sich ihre markanten Dächer aus dicken Zweigen zum Himmel empor, während unter dem flachen, gerade einen Meter hohen Holzgestell die Männer und Stammesältesten gebeugt kauern. Dort beraten sie den Alltag und die Zukunft der Gemeinschaft – und setzen sicher auch die Diskussion über die Fußspuren ihres Schakals fort. Khalid kennt jeden, dem wir begegnen. Mit allen vollführt er dieselbe Begrüßungszeremonie: Sie stehen sich gegenüber und spulen ritualisiert, aber herzlich, die Formeln herunter. Etwa eine Minute lang loben sie sich gegenseitig und fragen nach der Gesundheit und der Familie. Überhaupt erweist sich die Wahl Khalids als Glücksfall. Er kennt alle Wege, alle Leute und führt uns oft tief in die Siedlungen und bis in die Hütten hinein. Martin und ich dagegen hätten ständig heiligen Boden berührt.

alex-tannen-mali-4

Die Sonne brütet, die Dörfer wirken ruhig, fast ausgestorben. Ausgedörrt sind alle Felder, die Ernte ist längst in die Speicher gebracht worden. Wenn, dann sehen wir fast nur alte Leute. Nach vier Stunden steigen wir über verwinkelte Pfade vom Plateau in die Senke. Nur wenige Wege führen durch den Steilabbruch hinab, schließlich liegt die flache Savanne vor uns, eingerahmt von einem roten Dünengürtel. Es ist bald elf Uhr, und wir können uns aussuchen, wo wir rasten, um die Mittagsglut zu überleben, so Khalid. Wir entscheiden uns für einen Ort, an dem heute Markttag ist und wandern eine halbe Stunde weiter. Allein hätten wir aus der Ferne die Dörfer nie erkannt, die Konturen der Hütten und Siedlungen gehen im flirrenden Busch unter. Doch Khalid führt uns zielstrebig in die Steppe hinaus, über abgeerntete Felder und braune Erde, die die diesige Landschaft in eine einfarbige Suppe tauchen.

alex-tannen-mali-5

Meine zweite und letzte Wasserflasche ist bereits angebrochen. Bis zum Abend muss ich mir den Rest einteilen, und ich trinke ohnehin recht viel. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht, gelangen wir zum Markt. Wir rasten unter einem großen Baum, während uns Khalid den Mittagstisch zusammenkauft: gebratenes Ziegenfleisch, Tomaten, Zwiebeln und Mangos als Dessert. Dazu ordert er Reisbier. Alles, was auf dem Basar verkauft wird, haben die Händler auf dem Boden ausgebreitet. Erschöpft von der drückenden Hitze, der Wanderung und der Unmenge von Eindrücken dösen wir zwei Stunden im Schatten der Akazie, um uns herum das Stimmengewirr, Feilschen der Bauern und Meckern der Ziegen. Trüge unser Führer keine Wanderschuhe von Caterpillar, könnten wir meinen, wir wären ein paar Jahrhunderte zurückgelaufen. Wir sehen keine technischen Geräte, Taschenrechner, Radios und Autos. Erst als die Sonne ihre Talfahrt beschleunigt und die Hitze nachlässt, marschieren wir ausgeruht durch das Buschland unterhalb der Falaise weiter.

Eine seltene Priesterweihe

Das unscheinbare Dorf presst sich an den Felsen, Ton in Ton, gut getarnt. Keuchend steigen wir den Pfad hinauf, angezogen von Trommelmusik und Stimmengewirr. Von allen Seiten der nur scheinbar leeren Savanne strömen mehrere Hundert Menschen zusammen. Unverhofft erleben wir am Nachmittag einen religiösen Höhepunkt der Dogon, eine Art Priesterweihe. Mir wird etwas mulmig, so hautnah an einer rituellen Handlung teilzuhaben, neben einer hochschwangeren französischen Filmemacherin sind wir die einzigen Weißen. Doch niemand nimmt Anstoß an unserer Anwesenheit.

Zufällig kamen wir zu einer seltenen Priesterweihe.
Zufällig kamen wir zu einer seltenen Priesterweihe.

In der Mitte des Dorfes, vor einer von niedrigen Lehmmauern umgebenen Hütte, sitzt der Alte, der zum Priester ernannt werden soll. Starr und unbeteiligt, scheint er das Geschehen kaum zu verfolgen. Um ihn herum stehen Würdenträger und eine dreiköpfige Kapelle mit Zupfinstrumenten. Es ist kaum Platz, dicht drängen sich die Leute, versuchen, über die Mauer zu schauen und steigen auf die gegenüberliegenden Wälle, um das Geschehen zu beobachten. Unablässig preisen die Musiker die Hauptperson, und ein ebenso betagter wie zahnloser Mann fächelt ihm stetig Luft zu. Die Umstände, der Anlass, die Musik und der Trancezustand einiger Gäste fesseln mich, trotzdem läuft die Kulthandlung erstaunlich informell ab – und auch die Stätte des Ereignisses ist nicht mit einem Tempel, einer Kathedrale oder Moschee zu vergleichen. Es ist ein für mich unscheinbarer, aber eben heiliger Flecken Erde vor der Hütte des Alten. Das Faszinierende ist die Einfachheit und Formlosigkeit der Rituale, für die die Filmemacherin im achten Monat ihrer Schwangerschaft extra aus Paris angereist ist, wie sie mir später erzählt. Wir dagegen dürfen unvermutet dabei sein, da wir im Dorf nebenan Rast gemacht hatten.

alex-tannen-mali-1

Nach einer halben Stunde verläuft sich die Menge, auch wir beeilen uns. Bis zur Dämmerung bleiben nur zwei Stunden – und wir müssen noch den Felsen hinauf, wobei uns eine 100 Meter lange Treppe hilft, die in eine Spalte hineingehauen wurde. Zurück im ruhigen Campement gibt es unter einer nachgebauten Toguna vorzügliches Essen und kühles Bier – besser kann ein solcher Tag nicht ausklingen.

Mehr Erlebnisse meiner Tour durch Mali und zu den Dogon findest Du in meinem Buch „Einmal Timbuktu – und lebendig zurück“.