Addis Abeba, 4. August 2014. Der zerbröselte Wagenpark der „Chemin de Fer Djibouti Ethiopien“ liegt im besten Sonnenlicht: Verbeulte Waggons, umgekippte Loren und rostige Draisinen, darüber wuchert grellgrünes Gras. Der Endzustand kommt fotogen daher.

Dabei galt die 1917 errichtete Bahn lange Zeit als die profitabelste Eisenbahnlinie der Welt. In den zwei Jahrzehnten nach dem Bau hatte sie praktisch das Monopol für den Transport von Fahrgästen und Waren in das Hochland von Äthiopien.

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Mein Autorenkollege Peter Boehm hat in seinem Buch „Afrika quer“ das Bild vom „Endzustand“ geprägt: Er hat, höchst ungewöhnlich, im Jahr 2001 Afrika von Ost nach West durchquert. Allerdings stand er zunächst vor der Herausforderung, überhaupt den östlichsten Punkt des Kontinents auszumachen, denn der findet sich in Somalia und dort haben sie bekanntlich andere Sorgen als eine exakte Kartografie. Wann immer es nötig war in seinem Reisebericht, was natürlich oft der Fall war, bezeichnete Peter Boehm vor allem die Gebäude oder die Infrastruktur, die er zum Reisen benutzte, als Endzustand.

Ein Geisterbahnhof

Dies ist nicht nur der rote Faden von Boehms Buch – am Paradebeispiel der Eisenbahn Djibouti-Addis Abeba führt er den Leser sogar in seine Idee ein. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Infrastruktur Afrikas zum Ende der Kolonialzeit in den 60er-Jahren in einem relativ guten Zustand war. Überhaupt standen die Länder, ihre Verwaltung, das Bildungswesen in der Regel besser da, als beispielsweise asiatische Kolonien. Einige Jahrzehnte konnte Afrika von diesem Vorsprung zehren. Doch ohne jede Investition – oder schlichtweg einmal Kümmern oder auch nur Saubermachen – zerkrümelte das Mobiliar und näherte sich eben dem Endzustand an, von dem aus dann zum Glück nichts mehr schlimmer werden konnte.

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Boehms Gedankengebäude steht nun in seiner finalen Form vor mir, High-End sozusagen: Denn mein Kollege war zumindest noch mit dem Zug von Djibouti nach Addis Abeba gefahren, obwohl das altersschwache Gefährt scheinbar seit seiner Verstaatlichung – es war einst eine französische Gesellschaft – keine Betreuung, Ölung oder Reparatur mehr erlebt hatte. Es war in einem solch erbärmlichen Zustand, dass es an ein Wunder grenzte, dass er ankam – kein Wunder allerdings, dass das Ende des Betriebs nicht mehr in weiter Ferne lag: Der Verkehr auf dem größten Teil der Strecke und von und nach Addis Abeba wurde vor einigen Jahren eingestellt. Und so wird Äthiopien neben Libyen das einzige von mir bereiste Land Afrikas sein, in dem ich nicht mit einem Zug fahren werde.

Eine profitable Bahn zum Endzustand herunterzuwirtschaften, so etwas klappt offenbar am besten in Afrika. Ich bin daher auf Boehms Beschreibungen angewiesen, um die Tour zu illustrieren: „Ganz am Anfang erinnerte mich unser Zug an eine fahrende Konservenbüchse. Seine Waggons waren von allem gereinigt, was beweglich war. Wo einmal Fenster, Gepäcknetze, Lampen, Lüftungen oder Abdeckungen waren, gähnten nun große Löcher. An vielen Stellen hingen elektrische Kabel heraus. Aus reinen Sicherheitsgründen, versteht sich, war kein Strom drauf. Dann, als der Zug fuhr, erinnerte er mich an ein schwankendes Schiff auf hoher See. Ich war später einmal in der Zugführerkabine. Die Diesellokomotive fuhr nicht schneller als dreißig Stundenkilometer. Aber um die Waggons wild herumzubeuteln, reichte es völlig aus. (…) In Addis Abeba habe ich erfahren, dass im Jahr 2000 auf dieser Strecke dreiundvierzig Züge entgleist sind. Das heißt: Fast jede Woche einer.“

Dabei fuhren nur zwei Züge pro Woche. Russisches Roulette ist risikoloser.

Der ehemalige Kaiserwagen im Depot.
Der ehemalige Kaiserwagen im Depot.

Dem schmucken Bahnhofsgebäude sehe ich nicht an, dass hier schon lange keine Fahrkarten mehr verkauft werden. Boehm würde sicher von einem manierlichen „Mittelzustand“ sprechen. Der zweigeschossige Bau mit dem repräsentativen Eingangsportal ist gut in Schuss. Die Flaggen Äthiopiens und Djiboutis wehen im Wind, auf dem Vorplatz ist immer noch ein zentraler Haltepunkt der Sammeltaxis, und es gibt ein Bahnhofsbistro mit Garten. Auch auf dem gefliesten Bahnsteig stehen ein paar gedeckte Tische, und als handelte es sich um ein Berliner Szenecafé, ist ein alter, blau-weißer Triebwagen als Kulisse abgestellt, wie abfahrbereit.

Schrott steht neben dem Kaiserwagen

Offenkundig ist die Eisenbahngesellschaft auf alles eingestellt, und trotz des maroden Fuhrparks würde sich für erlebnishungrige Touristen auch ein angemessenes Gefährt finden: Hinter all den Schrotthaufen liegt ein veritabler Lokschuppen; solides Dach, statt Mauern ist ein fester Drahtzaun gespannt, ein vergittertes Tor schützt die guten Stücke – zwei weiße Salonwagen von Kaiser Haile Selassie. Leider ist der Chef mit dem Schlüssel gerade nicht da, sonst könnte ich sie mir ansehen, sagt mir Aufpasser, der mich für ein ordentliches Trinkgeld gerne herumführt.

Herrliche Fotomotive, doch abgesehen von Bahnhof und Kaiserwagen herrscht Endzeitstimmung: Wir stolpern über zugewachsene Abstellgleise zurück, vorbei an einem ausrangierten Schienenbus, der in allen Rostfacetten blüht und jeden Moment in sich zusammenzufallen droht, so dünn scheint seine korrodierte Außenwand. Mehrere ausgebaute Achsen stehen aufgereiht, als sollten sie bald wieder installiert werden.

Seit Jahren ist hier nichts gefahren, und das eingezäunte Gelände liegt im Dornröschenschlaf mitten in der Stadt. Um jedoch über das eine Gleis zu gelangen, müssen Heerscharen von Fußgängern dafür immer noch eine Brücke nutzen. Man könnte einfach das Tor aufmachen, aber vielleicht möchte die Verwaltung jeder Zeit die nicht mehr vorhandenen Signale auf Grün stellen.

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Ich stoße auf eine Riesenschildkröte, die seelenruhig zwischen den Schienen nach Nahrung sucht. Sie muss keine Angst vor herannahenden Zügen haben – aber angesichts der Oldtimer, die bereits während ihres Betriebs Jahrzehnte lang Museumsstücke waren, wäre es wahrscheinlich eher umgekehrt gewesen.