Kein Lokalgast artikuliert sich mehr normal, Frauen tanzen auf den Tischen, junge Leute rennen aufgekratzt umher. Die meisten Besucher stehen trinkend in kleinen Runden zusammen und schreien sich an; und weil das jeder tut, reden alle immer lauter. Auf dem Männerklo pinkeln drei besoffene Typen aus anderthalb Metern Entfernung Richtung Wand – offenbar ein Wettbewerb, wer am weitesten kann.

Jeden Sonnabend trifft sich die Jugend Lake Cargelligos im Bowling-Club und hat nur ein Ziel: sich volllaufen zu lassen. Es gibt keine richtigen Gespräche, kein nettes Beisammensitzen und kein genüssliches Trinken – in dem grell beleuchteten Saal ist das Ziel so schlicht wie beim Männertag in Deutschland, nur dass der hier mindestens einmal pro Woche und von allen gefeiert wird. Unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe betrinkt sich jeder in Rekordzeit. Selbst Jimmy ist mit von der Partie. Der Pub-Besitzer hat sein Royal Mail Hotel dicht gemacht und sich und seine Gäste mit dem Kneipenbus zur Konkurrenz gefahren. Die Middy-Gläser (250 Milliliter) sind noch nicht halbleer, da ordert er bereits Nachschub. Bei diesem Gemütszustand ist es kein Wunder, dass am Tresen soviel Wechselgeld auf dem Boden liegt, dass ich mir davon zwei kleine Gläser kaufen kann – natürlich Light-Bier.

Nicht dem Alkohol geschuldet, sondern der unvoreingenommen australischen Gastfreundschaft, ist das Angebot von Peter, einem Arbeiter auf Montage, bei ihm zu Hause in Sydney Station zu machen, bevor ich nach Deutschland zurückfliege. Er hatte mich an der Theke angesprochen, da ich „beer“ offenbar wie „Bier“ ausgesprochen habe und er Deutschland mag. Schließlich habe ich ihm vorgeschwärmt, dass ich Lust hätte, mal in Sydney zu leben. „Kein Problem“, sagt Peter, der noch halbwegs nüchtern ist: Er werde zwar nicht da sein, aber ich könne bei ihm gerne einige Tage alleine wohnen. Ich solle mir einfach bei seinem Vater den Schlüssel abholen und zum Schluss die Tür zuschmeißen. Nur den großen neuen Flachbildfernseher, den solle ich bitte stehen lassen. Und so wird es tatsächlich kommen. Außer der halben Stunde in der Kneipe werden wir uns nicht mehr sehen, bevor er mir sein schickes Innenstadt-Apartment in Sydney überlässt.

Auch die magere Aushilfe aus dem Supermarkt, die neben uns feiert, hat eine gewisse Deutschland-Affinität: „Heil Hitler! Schnell, schnell!“, prostet sie mir zu. Das sind die einzigen, von ihrem deutschen Vater gelernten Worte, an die sie sich jetzt erinnern kann. Fünf bis sechs Liter Bier am Abend sind keine Seltenheit. Voller Stolz wird mir berichtet, dass der fünfte Kontinent inzwischen Oktoberfest-Deutschland im Bierkonsum überholt hat. Die Zeitungen drücken das nüchterner aus: 39 Prozent aller Australier konsumieren Alkoholmengen, die langfristige Gesundheitsschäden verursachen können – nicht mitgerechnet die Leute, die zu jung sind, Alkohol kaufen zu dürfen und durch die Statistik fallen: Die meisten von ihnen bleiben zu Hause und kiffen. Manche Aborigines im Club sind nur deswegen nüchtern, weil sie ihre Sozialhilfe an drei Spielmaschinen gleichzeitig verzockt haben. Lohn und Arbeitslosengeld werden daher wöchentlich ausgezahlt. Sonst wären viele Australier einen halben Monat lang blank – und wahrscheinlich auf Entzug.

Ich bin jedoch der Einzige, der gegen feine Manieren verstößt: Da die Saufhalle offiziell ein Bowling-Club ist, und es in australischen Clubs verboten ist, eine Kopfbedeckung zu tragen, schreien mich alle empört an, als ich die Anlage mit einem Piratentuch betrete. Auf korrektes Benehmen wird offenbar größten Wert gelegt. Doch sie schmeißen mich nicht raus oder drohen mir mit Lokalverbot – nach Landessitte verlangt die Meute eine Saalrunde. Glücklicherweise kann ich mich als Ausländer rausreden, allerdings ohne mit „Heil Hitler!“ zurückzugrüßen.

 

In der folgenden Woche gehen die Alkoholexzesse im „Royal Mail Hotel“, einem der beiden Pubs, weiter: Der Rugby-Club The Tigers hat die Regionalmeisterschaft gewonnen. Alle Spieler besaufen sich drei Tage lang, kein Mannschaftskamerad kann sich dem Gruppendruck entziehen. Jimmy ist das zu anstrengend. Kurzerhand drückt er den Jungs den Kneipenschlüssel in die Hand und verabschiedet sich ins Bett.

Eine weitere Gelegenheit, sich kostengünstig abzufüllen, bietet mittwochs die Pub-Aktion „toss the boss“. Der Münzwurf – „tail or head?“ – entscheidet, ob der Gast sein Bier bezahlen muss oder nicht. Es gibt also nichts zu verlieren. „Tail“ meint den Schwanz des Kängurus auf der Rückseite früherer Münzen. Praktisch wie die Australier sind, wird jedoch kein Dollar geworfen, sondern ein Würfel mit jeweils drei „T“s und „H“s. Das geht schneller. Die Monatsbilanz von Familienvater Robert liegt mit zehn kostenlosen von zwölf Bieren deutlich im Bereich des statistisch Unmöglichen. Er beklagt, dass das Spiel nur eine Stunde dauert und er in dieser Zeit nicht mehr als drei Biere hinunter bekommt.

Die meisten Gäste sind so besoffen, dass mir klar ist, warum nach jeder Bestellung gleich abkassiert wird. Das spart langwierige Diskussionen am Ende des Abends – und jeder Trinker weiß ständig, über wie viel Geld er noch verfügt. Volle Kostenkontrolle also, denn das Restgeld liegt offen auf dem Tresen. Sobald sich der 360 Milliliter-Schooner oder die Flasche dem Ende zuneigen, bringt die Barmaid Nachschub und nimmt sich das Geld vom Stapel. Sollten irgendwann die Mittel ausgehen, muss keiner verdursten. Anschreiben ist allerdings gesetzlich verboten, und bei den alkoholgeschädigten Kurzzeitgedächtnissen kommt auch kein Wirt auf die Idee, Kredit zu geben – die Lösung ist verblüffend einfach: Der Geldautomat befindet sich gleich in der Kneipe. Der Gast muss sich nur noch an seine Geheimzahl erinnern, um flüssig zu bleiben.

Oft ist Bier ohnehin gleich Ersatzwährung. Begradigt Andie mit seinem Bagger die Einfahrt des Nachbarn oder hievt das Auto eines Farmers aus dem Straßengraben – gefragt wird einfach: „Welche Sorte möchtest du?“ 20 Minuten später steht ein Karton „Hahn light“ als Dankeschön auf dem Tisch, den er meist gar nicht anrührt. Damit kann Andie nämlich die Jungs von den Stadtwerken besänftigen, wenn er mit dem Bagger wieder mal ein Wasserrohr zerschlagen hat.

Australier bleiben ihrem Bier treu. Andie trinkt ausschließlich Hahn light, Martin schwört auf Hahn Premium, und Robert und Bill kippen sich nur Victoria Bitter, kurz VB genannt, hinter die Binde – das einzig Positive, das der ungeliebte Nachbarstaat Victoria hervorgebracht habe, sagen sie. Die richtige Sorte verteidigen sie so vehement wie die Lieblingsrugbymannschaft. Bloß eins ist beim Bier noch wichtiger: die korrekte Kühlung, besser gesagt: Tief-Kühlung. Die passende Temperatur können Gäste in der Kneipe voraussetzen; zu Hause müssen sie selbst dafür sorgen. Denn eine Flasche, die einen Kühlschrank nicht für mehrere Stunden von innen gesehen hat, ist eine Plörre. Bei vielen steht daher im Kühlschrank ausschließlich Bier. Das erste, woran die Jungs in unserem Bauarbeitercamp morgens denken, ist Bier. Nein, nicht, dass sie auf nüchternen Magen gleich einen trinken – sehr vorausschauend und nahezu liebevoll stellen sie ihr six-pack kalt. Der erste Handgriff nach Feierabend geht dann aber sofort zur Flasche – praktischerweise können sie den Verschluss rasch aufschrauben, ohne lange einen Öffner suchen zu müssen. Erst nach einem tiefen Schluck wird der Helm abgelegt und die Arbeitszeit in die Liste eingetragen. Danach trinken sie ununterbrochen; bis sie ins Bett fallen. Tagsüber, beim Arbeiten, bleiben sie jedoch trocken – wahrscheinlich der einzige Grund dafür, dass sie noch am Leben sind.

Damit die Lokalgäste nicht selbst fahren müssen, werden die Pubs ab 22 Uhr verpflichtet, einen „Courtesy-Bus“ bereitzuhalten, um die Leute Heim zu bringen. Natürlich holt Jimmy die Gäste auch gern zu Hause ab. Trotzdem wurden Robert und Bill bereits fünf Mal beim „Drink-Driving“ erwischt – so blöd ist man wahrscheinlich nur mit Alkohol im Blut. Für den Fall, dass sie das halbe Dutzend vollmachen, müssen sie ins Gefängnis – die Richter haben sie vorsorglich bereits zu je einem halben Jahr Knast verurteilt, wie sie mir mit einer Mischung aus Furcht und Stolz erläutern.

In den Kneipen wird der Konsum vor allem durch die Methode angeheizt, sich gegenseitig Runden zu geben. Niemand zahlt nur für sich, sondern immer auch für seine Begleiter. Sobald der erste sein Glas geleert hat, wird neu geordert – selbst wenn die Freunde noch gar nicht ausgetrunken haben. Rollt das frisch Gezapfte an, schütten sie schnell den Rest hinunter. Andererseits achten diejenigen, die gerade gezahlt haben, genau darauf, dass die anderen schnell ihre Schuld einlösen und zum Tresen laufen: „It‘s your shout, mate!“ Am Ende des Abends wird solange gebechert, bis alle quitt sind. Und während sie schon fast aus der Tür raus sind, fällt ihnen ein, dass sie noch „one for the road“ trinken könnten. Die neue Runde endet natürlich erst, wenn jeder wieder dran gewesen ist, also „four for the road.“

Dieses Bezahlprinzip läuft vor allem deswegen so gut, weil es in den Kneipen von New South Wales keine größeren Gläser gibt. Jimmy berichtet, dass die Halbliter großen Pints abgeschafft wurden – eigentlich mit dem Ziel, die Leute nicht zum Saufen zu verleiten. Alles Quatsch, genauso wie die riesigen, staatlich verordneten Warnschilder, die in den Pubs hängen und ungezähmten Alkoholkonsum verhindern sollen. Die zentrale Botschaft der Plakate lautet „Wir verkaufen nichts an Betrunkene.“