Erfreuliche Verspätung: Mit der Bahn von Mombasa nach Nairobi
Mombasa >> Nairobi, 15. November 2012. Der einfachste Part auf meiner letzten Etappe vor der Rückreise nach Deutschland ist der Fahrkartenkauf. Niemand steht vor mir am Schalter, nach zwei Minuten habe ich mein Ticket 1. Klasse: Bettzeug, Abendessen und Frühstück inklusive, für 4.405 Schilling (rund 40 Euro). Zwar kosten Flugtickets im Angebot exakt dieselbe Summe, und statt 14 Stunden benötigen Reisende auch nur eine für den Flug, um nach Nairobi zu gelangen. Doch was wäre ein langer Kenia-Aufenthalt ohne eine Fahrt mit der legendären Uganda-Bahn? Schließlich hat das Land seine politisch-strategische Bedeutung für die Kolonialherren erst durch den Bau dieser Strecke erlangt. Ohne sie wäre Nairobi nur das Wort für „kühler Fluss“ in der Sprache der Massai.
1896 begannen die Briten von der Hafenstadt Mombasa aus mit dem Bau der Strecke in Richtung Uganda – das damals im Mittelpunkt ihres Kolonialinteresses lag. Kenia gab es nicht, auch nicht als Plan, es war nur eine Landmasse, die es vom Indischen Ozean aus zu überwinden galt. Nairobi ist dann aus Werkstätten für die Bahn entstanden, in deren Umfeld sich Läden und immer mehr Menschen angesiedelt haben, und so ist nicht ohne Grund die Feststellung des kolonialen Spitzenbeamten Sir Charles Elliot überliefert: „Gewöhnlich bauen Staaten Eisenbahnen, doch selten baut eine Eisenbahn einen Staat.“ Ohne die Uganda-Bahn gebe es Kenia möglicherweise gar nicht, in jedem Fall würde die Hauptstadt nicht Nairobi heißen.
Zwar hat die alte Zentrale von Kenya Railways in Nairobi die Ausmaße eines Präsidentenpalastes, doch von der staatstragenden Bedeutung der Eisenbahn ist nicht mehr viel übrig geblieben, was ich schon am entspannten Kauf der Fahrkarten ablesen konnte. Das Kundeninteresse an der inzwischen privatisierten Bahngesellschaft geht gegen Null: Busse nach Nairobi sind viel schneller, wesentlich günstiger und fahren mehrmals am Tag, statt nur drei Mal pro Woche. Vor allem aber sind sie zuverlässiger und pünktlicher, denn auch auf der Strecke Mombasa-Nairobi gilt: Der afrikanische Zug, der pünktlich abfährt/ankommt, muss erst noch erfunden werden. An der Serviceeinstellung der Rift Valley Railways-Mitarbeiter liegt es jedenfalls nicht: Als ich mich am nächsten Tag entscheide, einen anderen Zug zu nehmen, buchen sie meine Fahrkarte innerhalb von 30 Sekunden telefonisch, kostenlos und unbürokratisch um. Wobei umbuchen schon ein viel zu technischer Begriff ist. Ich habe gesagt, dass ich gerne zwei Tage später fahren würde, sie haben mir geantwortet, ich solle zwei Tage später kommen. Das war‘s.
Eine Stunde vor der Abfahrt um 19 Uhr bin ich am Bahnhof, und auch der verwaiste Vorplatz signalisiert: Viele Leute fahren nicht mit der Bahn nach Nairobi. Falls heute überhaupt irgendetwas fährt, denn selbst eine halbe Stunde vor der Abfahrt ist das Gleis noch immer leer. Neben mir warten zehn weitere Touristen und genauso viele Einheimische. Rein rechnerisch steht also fast jedem von uns ein eigener Waggon zur Verfügung. Fünfzehn Minuten später knistert es im Lautsprecher, und selbst wenn der Bahnhofsvorsteher Kikuyu reden würde, wüsste ich, was er ansagt: Der Zug hat Verspätung! Kein Wunder, er ist noch nicht einmal aus Nairobi eingetroffen – was schon am Morgen hätte passieren sollen. Die Verspätung dürfte niemanden ernsthaft treffen; keiner wird auf die Idee gekommen sein, in Nairobi einen nahtlosen Anschlussflug gebucht zu haben. Ich zumindest werde meinen Rückflug erst von Nairobi aus planen.
Zusammen mit den anderen Wartenden sitze ich auf einer Bank, und inzwischen habe ich mehr Mückenstiche auf meinen Unterschenkeln, als es Passagiere gibt. Der kleine Laden zwischen den zwei Hauptgleisen hat sich dem Bedeutungsverfall der Bahn angepasst: keine kühlen Getränke, keine Snacks und wahrscheinlich als einziger Kiosk im Land kein Telefonguthaben. Über die Lautsprecher läuft ein Radiosender mit aufmunternder Musik.
Zum Glück habe ich Zeit
Es ist dunkel, über der Stadt steht der Mond mit seiner schmalen Sichel, als der Vormittagszug aus Nairobi einfährt. Doch auch hier hat die fast zwölfstündige Verspätung kaum Opfer hinterlassen: nicht einmal ein Dutzend Fahrgäste steigt aus den 14 Waggons. Wie lange dauert es nun, bis der Zug reisefertig ist? Zwar wurden mit der Einfahrt die Lampen unter dem Bahnsteigdach angeschaltet, trotzdem ist die Station angesichts der Überzahl der Mücken und der Unterzahl von Snacks und Getränken wenig einladend. Ich wende mich an den Station Master, und er versichert mir, dass ich ruhig für einige Stunden in ein Lokal in die Stadt fahren könnte, um dort die Wartezeit zu überbrücken. Es werde noch etwas dauern, bis der Zug gesäubert und die Lok gewartet ist: „In einer, zwei, ach: drei Stunden“ könne ich gerne wiederkommen. Doch ich würde es gerne genauer wissen, also: ob die Zeit nur für ein Bier oder sogar ein vollwertiges Abendessen reicht, ohne dass ich besorgt auf die Uhr schauen muss. Ich entlocke ihm ein „frühestens 21 Uhr“ und es scheint fast so, als ob ich persönlich die Abfahrtzeit nach meinem Bauchgefühl festlegen könnte. Um sicher zu gehen, tauschen wir die Telefonnummern aus, in seinem Büro kann ich mein Gepäck unterstellen. Daraufhin nehme ich mir ein Tuk Tuk in die nahegelegene Innenstadt und werde so unverhofft nach dem letzten ein allerletztes Abendessen in Mombasa einnehmen – doch ohne zeitraubende Experimente: Ich nehme Huhn mit Pommes und Salat, dazu ein Tusker.
Nach zwei Bier werde ich unruhig und rufe den Bahnhofschef an. Er gibt mir noch eine weitere Stunde. 22 Uhr solle es dann losgehen. Trotzdem überreize ich nicht, ein drittes Bier würde mich nicht entspannter machen, und so begebe ich mich nach wenigen Minuten auf den Rückweg. Während ich etwas aufgeregt bin, ob der Zug tatsächlich noch da ist, knattert das Tuk Tuk auf den ausgestorbenen Bahnhofsvorplatz. Es wirkt fast so, also ob schon seit Jahren kein Zug mehr abgefahren ist und der Askari nur noch das koloniale Bahngelände bewacht.
Puh, der Zug ist noch da. Ich hole vom Station Master mein Gepäck, laufe zum Waggon 1201 und bekomme dort mein 2er-Abteil zugewiesen, das ich – kaum überraschend – für mich allein haben werde. Gleich darauf bittet mich der junge Waggonschaffner zum Restaurantwagen. Ich wundere mich, hatte ich doch gedacht, dass sie erst später auf der Strecke die im Preis inbegriffene Speise servieren. Doch es ergibt natürlich Sinn, die Zeit bis zur Abfahrt mit dem Abendessen zu überbrücken, und so bekomme ich innerhalb einer Stunde mein zweites Dinner.
Zwei Abendessen in einer Stunde
Glücklicherweise bin ich bereits satt. Die Portion „Steak Wennersshinitzel“, wie ich der aufgestellten Menükarte entnehme, ist dürftig. Dazu gibt es ein Schälchen warmer, pappiger Früchte: drei Happen Papaya, Mango und Melone. Dicht an dicht sitzen wir Touristen auf den engen 2er-Polstern nebeneinander, auf denen lediglich eine Person bequem Platz hätte. Nur einer von beiden kann jeweils seine Arme und Hände bewegen. Auch die Stromversorgung funktioniert nur rudimentär, wohl wegen der fehlenden Lokomotive, wie ich fälschlicherweise vermute. Es ist drückend heiß im Waggon, obwohl an der Decke eine komplette Batterie von Ventilatoren auf ihren Einsatz wartet. Sonst halte ich mich auf Zugreisen besonders gerne im Speisewagen auf, aber heute folge ich rasch den anderen Reisenden nach draußen. Auf dem Bahnsteig ist es trotz der Mücken angenehmer und vor allem luftiger.
Eine Stunde lang lauschen wir dem Popsender, der aus den Bahnhofslautsprechern kommt, und laufen neben dem Zug auf und ab. Dann ist die Lok aus der Werkstatt zurück. Der Station-Master bittet alle Fahrgäste einzusteigen, und keine halbe Minute später fahren wir ab. An Industrieanlagen, Containerlagern und dem Güterbahnhof vorbei verlassen wir die Stadt.
Werde ich seekrank?
Nach einer halben Stunde haben wir die Außenbezirke Mombasas hinter uns gelassen, und ich verabschiede mich von meinen Abteilnachbarn, zwei gleichaltrigen Deutschen, in die Nachtruhe. Doch an Schlafen ist nicht zu denken. Heute jedoch zur Abwechslung mal aus ganz anderen Gründen: Trotz des offenen Fensters und des Fahrtwinds gleicht das Abteil einer Sauna, zumal ich mich im Oberen der zwei Betten ausgebreitet habe. Auf der unteren Liege habe ich meine Sachen verstaut, und weil der an der Wand montierte Ventilator nur noch eine dekorative Funktion hat, rinnt mir der Schweiß über den Körper. Ohne Unterlass schlingert und schaukelt der Wagen. Ich empfinde es als Wunder, dass unser Gefährt nicht von den Schienen springt. Anders als bei den Dau-Safaris auf Lamu habe ich diesmal wirklich Angst, seekrank zu werden.
Spät übermannt mich der Schlaf. Nur ein, zwei Mal werde ich während der Nacht vom Schaukeln wach; zwei Riemen verhindern, dass ich von Bett fallen kann. Die Temperatur hat sich merklich abgekühlt.
Quer durch den Nationalpark
Um fünf Uhr klingelt mein Wecker. Draußen ist es noch dunkel, ich schlafe weiter. Zur Dämmerung, um sechs Uhr, springe ich vom Bett und halte meinen Kopf aus dem Fenster. Wo wir wohl sind? Wie weit mag der Zug gekommen sein? In jedem Fall freue ich mich über die große Verspätung. So kann ich viel länger etwas von der Strecke sehen. Normalerweise fahren die Züge überwiegend nachts. Laut Fahrplan hätten wir bis Nairobi gerade einmal vier Stunden im Hellen verbracht, und die beiden Tsavo-Nationalparks, durch die die Strecke führt, längst hinter uns gelassen. Nun jedoch haben wir doppelt so viel Zeit, die Gegend links und rechts der Trasse zu betrachten.
Es ist bewölkt, und ich schaue in dichtes Buschland. Alle 100 Meter kann ich auf Schienenschwellen, die hochkant in den Boden gerammt worden sind, die Entfernung ab Mombasa ablesen: 236 Kilometer und 200 Meter. Wie weit wir noch von Nairobi entfernt sind, weiß ich zwar immer noch nicht, doch rasch rechne ich durch, dass wir seit Mombasa eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 34 Kilometern pro Stunde gefahren sind. Nach zwei Kilometern passieren wir Kenani, und der Blick auf die Karte verrät mir, dass wir noch im Nationalpark Tsavo West sind. Ich bleibe am Fenster. Vielleicht bekomme ich ohne Eintrittsgeld und Safariunternehmen nebenbei ein paar wilde Tiere zu sehen, möglicherweise endlich Leoparden oder etwa Nachfahren der legendären Löwen, die während des Baus der Uganda-Bahn zwei Dutzend der indischen Arbeiter getötet haben. Die beiden Wildkatzen sind als „Man-Eater“ in Literatur und Film berühmt geworden.
Weiter geht es auf der geraden Strecke, vorne trommelt die Diesellokomotive. Kurz nach sieben Uhr, wir haben Mtito Andei, den Ausgang des Nationalparks, passiert, weckt eine Glocke all jene auf, die noch schlafen. Das Personal ruft zum Frühstück.
Angesichts der Rumpelei äußerst gekonnt, gießt die Bedienung den Kaffee ein. Trotzdem spart sie nicht, und mit der Milch füllt sich die Tasse randvoll. Schnell trinke ich den oberen Teil ab. Gerade jetzt, beim Frühstück, macht sich die Schuckelei bemerkbar, es ist ein einziger Eiertanz. Deswegen gibt es wohl auch Rühr- statt Spiegelei, dazu ein Würstchen mit etwas Bohnen und halbherzig getoastetes, labbriges Weißbrot. Das Obst schmeckt so, als sei es vom Abendessen übrig geblieben. Die offenen Fenster kühlen zwar die Temperatur auf ein erträgliches Maß. Doch sie sind verdreckt und das Moskitofenster ist nach unten geschoben worden. Die Landschaft kann ich nur erahnen. Ähnlich meinem Bericht von der Thomson’s Falls Lodge fällt auch dieser Zugreport recht ungnädig aus.
Die dritte Klasse – bequemer als die Erste
Nach dem dritten Kaffee suche ich das Weite und erkunde das andere Ende des Zugs. Wie in einem Geisterhaus schlagen Schranktüren auf und zu und knallen gegen die Wände. An den Übergängen zwischen den Waggons springen die Klappen bedrohlich auf und ab. Sicher fühle ich mich nicht, sodass ich lieber einen großen Schritt von Wagen zu Wagen mache. Die 3. Klasse hat sich nach den letzten Stopps mit neuen Reisenden gefüllt. Im letzten Personenwagen, vor den beiden Gepäckwaggons, bin ich allein mit einem Kleinhändler, der Kekse, süße Säfte und chinesische Taschenlampen anbietet. Ich kaufe ihm etwas Gebäck ab und lasse mir am letzten Fenster den Zugwind ins Gesicht strömen. Ausgerechnet in der 3. Klasse sind die Fenster am größten, lassen sich am weitesten öffnen, und gibt es wegen des Großraumwaggons den besten Rundblick und ausladende Polsterbänke. In meinem nüchternen Zweierabteil würde ich knastgleich auf eine Wand starren. Also verbringe ich die nächsten Stunden hier, statt in meiner Bude. Für Essen und Getränke ist gesorgt; ich genieße den Blick auf die Felslandschaft, den Fahrtwind und plaudere mit dem Händler.
Kurz nach 13 Uhr lässt sich auch unser Waggonschaffner wieder blicken. Seit dem Vorabend habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er sammelt das Bettzeug ein und kündigt an, dass wir in 40 Minuten unser Ziel erreichen. Die planmäßige Ankunft wäre 9.30 Uhr gewesen. Beim letzten Halt vor Nairobi, in Athi River, verlassen alle nichtzahlenden Passagiere den Zug, weil an der Endstation die Fahrkarten am Ausgang scharf kontrolliert werden. Die restlichen Minuten bis zum Ziel durchfahren wir Slums, gesäumt von Müllkippen und stehendem Abwasser. Neben dem Gleis haben Kleidungshändler ihre Stände aufgebaut.
14.07 Uhr: Mit erfreulicher viereinhalbstündiger Verspätung rumpeln wir in den ehrwürdigen, mehrgleisigen Bahnhof Nairobis hinein. Ich steige die Trittbretter zur tiefliegenden Plattform hinab. Endlich habe ich wieder festen Boden unter den Füßen.
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