Auf dem Finowkanal (2): Von Grafenbrücker Schleuse bis Ragöser Schleuse

Nach unserer Auftakttour im Jahr 2019 geht es ein Jahr später weiter auf dem Finowkanal. Beim letzten Mal waren Steffen und ich bis zur Grafenbrücker Schleuse gekommen. Heute haben wir 17 weitere Kilometer bis zur Ragöser Schleuse kurz hinter Eberswalde angepeilt. Hört sich zunächst nach wenig an. Erfahrene Paddler schaffen das in zwei Stunden. Doch dazwischen liegen sieben Schleusen. Ein anspruchsvoller Fahrplan und nur mit viel Glück zu bewältigen. Denn die letzte Schleusung findet schon um 16.45 Uhr statt.

Für unsere zweite und vorletzte Etappe auf dem Finowkanal, haben wir uns die heißeste Woche des Jahres gesucht. Zum Glück säumen dichte Baumreihen Teile der Strecke. Zuvor steht aber etwas Logistik auf dem Programm. Jeder Paddler kennt das banale, indes wesentliche Problem: Wer irgendwo hinfährt, muss auch wieder zurück. Bei Rundtouren kommt man automatisch am Startpunkt an. Sonst aber fährt man von A nach B und schließlich wieder nach A. Langweilig – vor allem bei Kanälen plus Schleusen.

Also reisen Steffen und ich heute mit zwei Autos an: Im Konvoi zur Ragöser Schleuse, dort lassen wir meins stehen. Dann weiter mit Steffens Wagen zum Ausgangspunkt. Das kostet zwar mehr als eine Stunde am Morgen, doch abends sind wir frei. Vor allem aber müssen wir nicht so sehr auf die vertrackten Schleusenschließungszeiten achten.

Nach Anfahrt, Aufbauen und Frühstücken starten wir hinter der Grafenbrücker Schleuse (Kilometer 63,5) und haben Glück, dass wir sie nicht durchfahren müssen. Eine sechsköpfige Rentnertruppe muss anderthalb Stunden mit ihrem Kanu warten, da gerade am Schleusentor gebaut wird. Dabei wollen sie heute noch bis zum Werbellinsee. Mit einem bedauernden Blick legen wir in die andere Richtung ab. Wir hoffen, dass uns nicht dasselbe Schicksal ereilt und mitten im Sommer nach den Berlin-Brandenburger Ferien alle zwölf Anlagen durchsaniert werden.

Die Sonne knallt auf uns herab. Auch im vagen Schatten der Bäume sind es immer noch 33 Grad. Die Baumreihen lassen nur einen schmalen Streifen Himmel frei, was sich bezaubernd auf der Wasseroberfläche widerspiegelt. Die Szenerie könnte uns die perfekte Illusion von Abgeschiedenheit vermitteln, würde nach gut drei Kilometern nicht die Autobahn unseren Weg kreuzen. Doch unauffälliger geht es nicht: Nur eine kleine Brücke überquert den Kanal, noch dazu von Bäumen verdeckt. Unser Naturerlebnis ist in keiner Weise getrübt. Vielmehr freuen wir uns darüber, auf der richtigen Seite zu sitzen. Zumindest jetzt, denn am Abend fahren wir über dieselbe Autobahn wieder zurück.

Hinter einer Biegung kommt der Kirchturm von Finowfurt in Sicht. Die Tore der Schleuse Schöpfurt sind zu. Die Wärterin steht im Schatten eines Häuschens und stellt uns die reichlich rhetorische Frage, ob wir geschleust werden wollen? Ja, wir wollen gern und sie kurbelt uns ein Tor auf. Heute, und es ist 12.30 Uhr, sind wir erst das zweite Boot, berichtet sie. Vielen ist es wohl zu heiß. Freie Fahrt für uns, und so sind wir nach 13 Minuten unten. Das dunkle Eisentor neben einer ebenso dunklen Wand öffnet sich und gibt den Blick auf den sonnigen Kanal frei. Wir wiederum waren froh, mit jedem Meter abfließenden Wassers im Schatten der Schleusenwand immer mehr Kühle zu erhaschen – während die Schleusungszeit exakt dazu reicht, unser erstes Radler zu leeren.

Wir danken, verabschieden uns und sind nach drei Kilometern bereits in der nächsten Kammer. An der Schleuse Heegermühle (Kanal-Kilometer 71) hatte man uns längst erwartet: Das Tor steht offen, der Wärter lehnt an einem Geländer und hat einen Blick wie „Wo bleibt Ihr denn nun …?“ Aber er ist ganz und gar nicht vorwurfsvoll. Niemand muss auf uns warten, außer dass wir ihn womöglich aus der Siesta holen – die hier den gesamten Tag andauert. So wenig ist an diesem Bullenhitzetag los. Steffen witzelt schon, wie viele Wälzer er verschlingen würde, wäre er Schleusenwärter. Vielleicht ein Sachbuch über Watergate.

Der Kollege hier freut sich offenbar über die Abwechslung und ist sehr gesprächig. Welche Hubhöhe, wie viel Wasser in der Kammer ist – die Antworten auf diese Fragen haben aber alle drauf. Dass er bereits offen hatte, ist wiederum kein Zufall. Die Schleusenwärter informieren sich gegenseitig, ob und wann jemand kommt. So kann es für uns weitergehen. Schließlich liegen noch fünf Hürden vor uns.

Die zwölf historischen Finow-Schleusen sind aneinandergereiht wie an der sprichwörtlichen Perlenkette. Und ebenso ziehen sich auch Finowfurt, Finow und Eberswalde am Kanal entlang. Sie wirken von der Karte her wie ein großer, gedehnter Ort, von denen man vom Wasser aus aber meist nicht viel sieht. Hin und wieder grüßt eine Turmspitze über den Baumwipfeln; Backstein-Schornsteine, Wassertürme und Industrietürme aller Art, später auch ein riesiger Denkmal-Kran als Erinnerung an den legendären Kranbauer TAKRAF.

Wie ein Relikt aus anderer Zeit wirkt auch die antiquierte Stahlbrücke kurz vor der Schleuse Heegermühle. Sie überspannt nur eine kleine Einbuchtung und deren damalige Funktion leuchtet heute nicht ganz ein. Ihr fehlen inzwischen die Holzplanken und so ist die genietete Konstruktion ein Sinnbild der längst vergangenen Blütezeit der Finowkanals. Einst fuhren hier 20.000 Lastkähne jedes Jahr hindurch.

Viel ist von den Fabriken des „Märkischen Wuppertals“ nicht übriggeblieben. Ich hatte mir mehr Industriearchitektur vorgestellt. Vom Kanal aus – der selbst unter Denkmalschutz steht – sieht man bis zur Drahthammer Schleuse in Eberswalde fast nur Natur, ein paar dörflich anmutende Siedlungen mit niedrigen Häusern und Kirchtürmen.

Erstmal aber geht es kurz vor halb zwei in die dritte, die Wolfswinkler Schleuse (Kilometer 73) hinein. Obwohl wir heute weit und breit die Einzigen sind, ist sie noch nicht offen. Unsere Ansprüche sind inzwischen gestiegen und wir fragen uns langsam, ob wir unser zunächst anspruchsvoll erscheinendes Tagespensum bis Ragöser Schleuse nicht zu gering bemessen haben.

Hier aber muss der Kollege nur das Tor aufmachen. Die Kammer hat schon Oberwasser. Der Wärter schließt, läuft nach vorn und öffnet dort die Schotten. Wieder dauert es eine knappe Viertelstunde, bis das Wasser aus der Kammer geströmt ist – und das Radler aus seiner Dose. Die Schleusungszeiten stimmen bei allen Anlagen weitestgehend überein. Die Kammern sind zwar standardisiert. Doch die Hubhöhe reicht von 1,70 Metern an der Ruhlsdorfer bis zu 4 Metern an der Kupferhammer Schleuse mit insgesamt 3,5 Millionen Litern Wasser.

Nicht ganz so große Wassermassen, aber dafür umso imponierender: Die Muscheln, die an der Schleusenwand kleben, spritzen kontinuierlich Wasser aus ihrem Inneren heraus, als sie nun im Freien hängen. Ein Naturschauspiel, zudem eine klitzekleine Erfrischung für uns und zumindest für Steffen und mich ein völlig neues Phänomen.

Kurz nach zwei Uhr. Zeit für eine Pause, einen Imbiss und ein kühles Bier sowieso. Wenn nur der Stress mit den Schleusen nicht wäre, schließlich haben wir unser Tempo nicht selbst in der Hand. Eine schaffen wir noch vor der Rast – und die Drahthammer Schleuse (Kilometer 74) ist auch nur einen Kilometer entfernt. Da sind wir in 20 Minuten durch!

Denkste! Ausgerechnet hier endet unsere grüne Welle. Der Wärter schaut von Weitem, geht aber dann ins Haus. So wie Kellner, die durch einen Gast hindurchgucken. Langsam steuern wir das verschlossene Tor an. Kein Boot zu sehen, kein Wasserrauschen. Offenbar ist das Wasser „unten“. Doch nichts tut sich. Wir rufen. Wir rufen nochmal und nochmal. Dann erscheint der Wärter und meint, dass wir umtragen müssen. Ihm wurde ein Motorschiff bergauf angekündigt und das habe Vorrang – auch wenn es weit und breit noch nicht zu sehen ist.

Umtragen gehört zwar zur allgemeinen Paddlerfolklore. Wir aber könnten auch drauf verzichten und stattdessen elegant in die Schleuse fahren, ein Bier aufmachen und nach einer Viertelstunde weiterschweben. Wir paddeln zur Anlegestelle zurück, steigen aus, holen unser Zeug aus dem Boot und dann das Boot aus dem Wasser, machen den Bootwagen klar, hieven das RZ85 rauf, packen die Sachen ins Kanu und ziehen wie Wandersleut auf dem Treidelweg entlang. Von einem anderen Fahrzeug immer noch keine Spur. Dafür grüßt von der anderen Seite die Ausflugsgaststätte „Haus am alten Walzwerk“, mit ein Biergarten direkt an der alten, zweiten Schleusenkammer, die heute als Wehr fungiert. Spontan beschließen wir, aufs Warmmachen unserer Soljanka (unsere private Paddelfolklore) zu verzichten und kurzerhand hier einzukehren.

Wir bestellen Boulette mit Kartoffelsalat (6,99 Euro), frischgezapftes Bier und verschnaufen. Wir könnten die Idylle allerdings noch mehr genießen, wenn die Zeit nicht so zerrinnen würde. 16.45 Uhr ist die Uhrzeit, zu der auf der Strecke alle Schotten zugehen. Bis dahin müssen wir durch die vorletzte Schleuse hindurchsein, um bis zur Ragöser Schleuse zu gelangen. Also muss ich zum Aufbruch drängen, obwohl wir gerade beim zweiten Bier sind.

Eine Stunde für zwei Schleusungen und vier Kilometer, das wird knapp. Rasch rollen wir das Boot, das wir wie einen Gaul vorm Saloon an einen Baum gebunden hatten, den Hang hinunter und beeilen uns. Die Drahthammer Schleuse wartet immer noch mit unten geöffneten Toren auf das angekündigte Boot. In der Zeit hätte er uns vier Mal hin- und herschleusen können – aber dann hätten wir auch den zünftigen Kartoffelsalat mit Boulette verpasst.

Exakt 20 Minuten später liegen wir wieder vor verschlossenen Toren. Ist unsere Glückssträhne nun vollends versiegt? In der Kammer dümpelt ein Leih-Hausboot, zum Glück oben und es zeigt in unsere Richtung. Doch sogleich ruft der Wärter, dass wir danach noch ausharren müssen. Hinter uns kämen ein paar weitere Boote, die er mit reinlassen müsse. Wir protestieren freundlich. Sollten wir ihm vielleicht etwas von unserem Biervorrat abgeben? Unser kumpelhaftes Auftreten erzielt auch so seine Wirkung:

„Fahrt gleich rein, dann müssen die anderen eben warten.“

Zumal niemand weiß, wo sie eigentlich sind. Denn die vorherige Schleuse wartet sicher noch auf dieses Hausboot und auf der Strecke dazwischen waren wir die Einzigen.

Erstmal aber muss das Hausboot überhaupt raus, das offenbar zwischendurch eine Pause eingelegt hatte, obwohl zwei Schleusen und zumindest wir auf sie gewartet hatten. Am Steuer: Typ „alleinerziehende Mutter auf Tour mit zwei pubertierenden Geschwistern, die beide keine Lust auf derartige Freizeitgestaltung haben“. Wir hören Gezank und Geschrei. Die Mutter stoppt das Boot mitten im Ausgang der Schleuse, das sich sogleich querlegt. Die Kinder streiten munter weiter. Ihnen war eine Stange zum Abstoßen und Abstandhalten ins Wasser gefallen. Der Wärter fischt sie augenrollend heraus und reicht sie hinüber. Als handele es sich um einen Autosccoter, gibt die Mutter daraufhin Gas. Sie reißt das Steuer herum und nimmt mit dem Heck fast eine Ecke der Schleuse mit. Vielsagend kreuzen sich unsere Blicke mit denen des Schleusenwärters, der sofort die Kammer hinter uns schließt, als wolle er uns vor weiterem Ungemach schützen.

Im Laufen ruft er seinen Kollegen in der Eberswalder Stadtschleuse an, damit er sich und den Wasserstand schon einmal auf uns vorbereitet. Denn Feierabend und Betriebsschluss nahen unbarmherzig. Es ist 16.15 Uhr. Wir versprechen, keine Pause zwischendurch einzulegen und in einem Zug und in persönlicher Bestzeit durchzurauschen. Mal sehen, was unsere Muskeln hergeben.

In 15:28 Minuten bestreiten wir die 2,02 Kilometer durch das Stadtzentrum von Eberswalde, das streckenweise so idyllisch aussieht als seien wir noch draußen in Finowfurt. Nur wenige Brücken, Häuser und keinerlei alte Fabrikanlagen säumen unsere vorletzte Etappe. Nur eine Hausfassade mit dem großflächigen Schriftzug von „Chorona Immobilien“. Exakt um 16.40 Uhr fahren wir in die Kammer unserer letzten Schleuse für heute hinein.

Danach ist Feierabend, gewissermaßen auch für uns. Von nun an können wir uns treiben lassen. Vorher saß uns die Zeit im Nacken – genauso wie die Sonne, die während der West-Ost-Fahrt erbarmungslos von rechts und hinten auf uns brannte.

Kurz nach der Stadtschleuse wird die Landschaft wieder beschaulicher. Gleich hinter dem großartigen Gebäude der „STAEDT. BADEANSTALT“ sind wir wieder in der Natur. Ein dicker Streifen Schilf begrenzt lückenlos das baumbestandene Ufer. Der Kanal windet sich, als sei es ein unregulierter Fluss.

Halb sechs sind wir am Ziel. An der Ragöser Schleuse ist nach drei Stunden reiner Fahrtzeit – also ohne Schleusungen – Schluss für heute. Aber wir bleiben noch. Denn das Fleckchen hier könnte idyllischer nicht sein. Eine große Wiese mit schattenspendenden Bäumen. Wir lassen uns nieder, stärken uns und wärmen später die Suppe auf. Vor allem aber sind wir froh, endlich aus der Sonnenglut heraus zu sein. Kein Wunder, dass wir heute nur zwei Boote gesehen haben.

Die Soljanka steht auf dem Kocher, für jeden drei Radler und Bier in der Kühltasche. Ich könnte unser Refugium noch mehr genießen, würde ich nur meinen Autoschlüssel finden. Ich suche im Rucksack, dann in meinen Hosentaschen, schließlich im Boot. Doch es besteht kein Zweifel: Hier ist er nicht! Am und im Auto auch nicht, wie ich rasch in Erfahrung bringe. Doch wir lassen uns davon nicht beirren. Ich rufe ein Taxiunternehmen an, frage nach Preis und Verfügbarkeit für die Tour zur Grafenbrücker Schleuse – bestelle einen Wagen aber erst für später.

So hatten wir uns die ausgeklügelte Logistik natürlich nicht vorgestellt: Anders als geplant, fahre ich in der Dämmerung mit dem Taxi nach Marienwerder zurück, um Steffens Auto zu holen. Er baut solange das Boot ab. Nach anderthalb Stunden bin ich wieder da. Abschiedstrunk (kein Bier, sondern frisch gebrühter Kaffee) mit Blick aufs Wasser, um 22 Uhr packen wir die Sachen ins Auto.

In Gedanken sehen wir beide uns am nächsten Tag erneut hierherkommen, um mit dem Ersatzschlüssel mein Auto abzuholen. Bevor wir allerdings aufbrechen, schaue ich unter den Fahrersitz. Das hatte ich zwar schon in Marienwerder getan, nun aber nochmal mit Taschenlampe und akribischer. Der Fußraum ist besenrein, unterm Sitz glänzt es jedoch: mein Schlüssel!

Beim nächsten Mal werde ich ihn garantiert mit einem paddelgroßen Anhänger versehen. Denn eine dritte Etappe haben wir noch vor uns, um den Finowkanal für uns abzuschließen.

Hier geht es zum ersten Teil auf dem Finowkanal von Zerpenschleuse bis Grafenbrücker Schleuse.