Lamu, 13. Oktober 2012. Die Sonne knallt, ich habe mich schon mehrmals hilflos umgeschaut – wo gibt es denn hier Schatten? „Keine Angst“, ruft Matata, „wir haben doch unsere Fernbedienung dabei. Hier funktioniert alles auf Knopfdruck.“ Er gibt Nakala, einem seiner beiden Helfer, einen kurzen Wink. Der weiß sofort Bescheid, kennt den Scherz und spannt das Sonnensegel für die europäische Haut quer übers Boot. Ich setze mich und genieße den Fahrtwind.

Die Queen mit seinem Besitzer Matata (links)
Die Queen mit seinem Besitzer Matata (links)

Nach der Safari im Norden, zu den Thomson’s Falls und zum Lake Nakuru Nationalpark war ich allein zur orientalischen Insel Lamu an die Nordküste Kenias geflogen, um dort mehrere Wochen zu verbringen. Mein neues Reiseziel ist nicht nur landschaftlich ein Kontrastprogramm: Denn wie weite Teile der islamisch geprägten Küste hat das abgeschiedene Lamu kulturell und auch kulinarisch nur wenig mit dem schwarzafrikanischen Hauptteil Kenias zu tun. Für die nächsten beiden Tage habe ich mir zunächst vorgenommen, mit einer Dau – der „Queen“ – die Gewässer im Archipel zu befahren. Matata, Kapitän sowie Besitzer der „Queen“ und mit seinen Rastazöpfen einer der bekanntesten Köpfe der Gegend, wird mir die Inselwelt zeigen.

Bis heute leidet das einst vom Jet-Set bis hin zu Backpackern beliebte Reiseziel unter zwei tödlich verlaufenen Entführungsfällen durch somalische Piraten und Banditen vor anderthalb Jahren – obwohl Lamu gut 100 Kilometer von Somalia entfernt liegt. Dabei fand ein Kidnapping viel weiter nördlich auf der kaum besuchten Insel Kiwayu statt – und wurde trotzdem mit der Hauptinsel Lamu in Verbindung gebracht, weil sie bekannter ist, als der Tatort. Eine betagte Französin jedoch, die später verstorben ist, wurde aus ihrem Haus am nahen Manda-Beach verschleppt.

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Seit mehr als einem Jahr ist nun nichts mehr passiert, das Geschäft der Piraten an der gesamten ostafrikanischen Küste ist drastisch zurückgegangen, auch im Ergebnis militärischer Aktionen: Inzwischen ist die kenianische Armee – als Antwort auf die beiden Entführungen – in Südsomalia einmarschiert und hat dort aufgeräumt. Trotz Reisewarnungen und angstmachender Medienberichte, vor allem in der britischen Presse, bin ich hingefahren. Tatsächlich ist es friedlich auf Lamu, doch der Großteil der Touristen ist verschreckt worden. Während zumindest ich die Besucherflaute genießen kann, ist sie für die einheimische Tourismusbranche und deren Personal fatal: Hotels stehen leer und Hunderte Angestellten sind entlassen worden.

Die Fahrt mit der „Schildkröte“

Daher ist Kapitän Matata froh, dass er mit mir heute wieder einen zahlenden Kunden hat. Zwölf Meter lang, fünf Meter breit, der Mast fast zehn Meter hoch: Gebaut in Lamu im Jahr 2010, ist die „Queen“ eine klassische Dau, das traditionelle Segelschiff des Indischen Ozeans. Die Insel lag mit ihrem einst bedeutenden Hafen an den historischen, vor allem von Arabern dominierten Handelsrouten, und so ist die Dau noch heute im Lamu-Archipel ein wichtiges Transportmittel. Alle ihre Besitzer, auch Matata, bezeichnen ihr Schiff nur gegenüber Touristen als Dau, denn dies ist lediglich ein Sammelbegriff für mehrere Dutzend Bootsarten. Die Queen ist präzise gesagt eine Kasa, ein Schiffstyp, der vor allem in Mosambik beheimatet ist. Kasa bedeutet auf Deutsch Schildkröte, und schaue ich mir den nicht übermäßig schnittigen Schiffsrumpf von vorne an, ähnelt er tatsächlich dem breiten, schüsselförmigen Panzer des Reptils.

Am Vormittag starten wir in Lamu-Town, und noch bevor ich mich auf dem Boot eingerichtet habe, wozu vor allem ein ordentlicher Schattenplatz gehört, haben wir den Hafen verlassen. Fast zu schnell, denn vom Wasser aus erhalte ich schließlich den besten Blick auf die jahrhundertealte Stadt, die zum Weltkulturerbe gehört. Die Gebäude der „Seafront“ – darunter Privat- und Handelshäuser, Hotels, Restaurants und das Lamu-Museum – mit ihren klassischen Flachdächern, orientalischen Elementen, großen Balkonen, ausladenden Terrassen, Zinnen und vereinzelten reetgedeckten Spitzdächern ziehen an uns vorüber. Sie sind teils restauriert, überwiegend aber in beklagenswertem Zustand. Rasch verlassen wir das Gewimmel der Stadt, der basarartige Lärm schwindet.

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Den Preis, den ich mit Matata am Vortag für die Safari ausgehandelt hatte, und auch das gehört wohl zur Dau-Erfahrung, hat er unter anderem mit dem Benzinpreis begründet – zu Recht, da wir zunächst mit Motorkraft fahren. Doch wir nutzen den Motor nur, um schnell den Hafen mit seinen vielen Schiffen und Barkassen zu verlassen. Dann lässt Matata das imposante Segel hissen. Der Wind kommt aus Südost, und rasch gewinnen wir im Lamu-Channel an Fahrt. Heute werden wir Lamu auf der dem Meer abgewandten Seite halb umfahren, bis nach Kipungani an ihrer Spitze, wo der Indische Ozean beginnt. Auf demselben Weg kehren wir am späten Nachmittag zurück.

Großartiger Blick auf die Altstadt

Erst von Weitem erfasse ich die Stadt als Ganzes: Jetzt sehe ich das markante Fort, das sich nur unwesentlich über den Dächern der restlichen Gebäude erhebt, die Altstadt steigt leicht mit dem Hang an, einige fünf- bis sechsgeschossige Gebäude thronen wie Trutzburgen über der Stadt, vom höchsten Punkt hinter dem Fort recken sich auf einem Plateau ein paar Dutzend Palmen zum Himmel. Mit größerem Abstand, wenn nur noch die hellen Fassaden und die Silhouette Lamu-Towns zu sehen sind, wirkt der Ort am schönsten. Denn wie die meisten afrikanischen Städte ist auch Lamu-Town völlig verdreckt: Müll liegt in den Straßen, Schuttberge versperren die Wege, das Abwasser bahnt sich seinen Weg durch kleine Rinnen – und die Hinterlassenschaften der angeblich 3.000 Esel räumt auch niemand weg.

Jetzt aber sind wir in der Natur. Es geht an ausgedehnten Mangrovenwäldern und vereinzelten Hütten entlang, einige kleine Kanäle verschwinden hinter Bäumen und Büschen. Zeit für den offiziellen Begrüßungscocktail: Nakala köpft eine Kokosnuss und reicht sie mir. Der Saft schmeckt erfrischend und kalt, die Frucht kommt direkt aus dem Kühlschrank.

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Matatas „Queen“ ist extra für Touristen gebaut worden und entsprechend ausgestattet: Auf beiden Seiten des Bootes gibt es breite Sitzflächen. Außer dem Bootsinneren, das mit Matten ausgelegt ist, ist die gesamte Fläche vom hinteren Platz am Ruder bis hin zur Spitze mit Matratzen und dicken Kissen überzogen, auf denen sich die Gäste je nach Wind und Sonnenstand ausstrecken können. Unter den Sitzgarnituren an den Längsseiten des Boots befinden sich Klappen, sodass Matata alle Utensilien in den Sitzbänken verstauen kann. Doch kaum habe ich es mir bequem gemacht, muss er aus genau der Luke unter mir etwas herausfischen: Mal ist es das Buschmesser, dann ein Glas, für die Früchte braucht Matata einen großen Teller.

Nach einer knappen viertel Stunde stößt der rund einen Kilometer breite Lamu Channel aufs Festland und gabelt sich: Nach Norden führt der Mkanda Channel um die Schwesterinsel Manda herum, wir dagegen fahren nach Süden über den Mto wa Kipungani. Da wir die Richtung geändert haben, nun geht es nach Südwest, müssen wir das Segel einholen und wieder den Motor anwerfen. Mit halber Kraft fahren wir weiter durch die Gewässer.alex-tannen-kenia-lamu-4

Kurze Zeit später kommt eine große Anlegestelle in Sicht mit Bussen, Autos und Händlern. Es ist Mokowe auf dem Festland – die Busstation von Lamu und Verbindung zur Außenwelt für alle, die weder Dau noch Flugticket besitzen. Von hier aus fahren mehrmals täglich Busse nach Mombasa, Nairobi, aber auch nach Tansania und Uganda. Wer ein Auto besitzt, hat es dort auf dem bewachten Parkplatz abgestellt. Bis hierher sind wir noch von vielen anderen Schiffen begleitet worden, die im Pendelverkehr zwischen Lamu-Town und Mokowe unterwegs sind: normale Boote für 100 Schilling, die eine halbe Stunde nach Lamu-Town benötigen, und Schnellboote für 150 Schilling, die den Weg in zehn Minuten schaffen.

Einige der Passagiere tragen Schwimmwesten – ein Novum an dieser Küste. Sie sind neuerdings gesetzlich vorgeschrieben, an allen Häfen der Insel werben Großplakate für deren Gebrauch. Einige Schiffseigner halten sich daran, dann erkennt der Beobachter schon von Weiten am typischen Orange, wie voll das Boot ist. Anderen Betreibern sind die Vorschriften egal, die Westen bleiben im Bootsinnern in einem Sack liegen – zumindest, solange kein Polizeiboot in Sicht ist, dann werden sie schnell verteilt. Doch ob die Schwimmwesten im Ernstfall helfen würden? Die meisten Leute haben sie nur halbherzig umgehängt und nicht geschlossen, andere nutzen sie als Sonnenschutz.

Links und rechts Mangroven

Uns trägt der Motor weiter, Matondoni kommt in Sicht, ein Dorf von Mangrovenwäldern eingerahmt, und von Matata als Haltepunkt für eine Sightseeing-Tour angepriesen. Doch bereits der zerbröselnde Betonsteg lässt nichts Gutes erahnen. Ein Guide nimmt uns in Empfang und führt uns durchs Dorf. Es ist völlig heruntergekommen, zugemüllt, viele der alten Häuser sind im Begriff zu zerfallen – kein seltener Zustand hier an der Küste. An einem Haus fehlen Dach und alle Seitenwände der zweiten Etage, nur ein Sofa steht noch im Freien wie ein Hochsitz. Bis auf eine kleine Dau-Werft hat das Dorf in Endzeitstimmung nichts zu bieten. Rasch gehen wir wieder zurück zur „Queen“, wobei das Trinkgeld für den Guide nicht im Fahrpreis inklusive war, wie mir Matata erst erklärt, als ich über den durchlöcherten Anleger zurückbalanciere.

Wir fahren weiter: Links und rechts grenzt der grüne Streifen der gedrungenen Mangroven unseren Fahrweg ein, zum Festland hin hat das Meer viele fjordartige Buchten geformt, wir sehen ein paar Schwärme fliegender Fische, vereinzelt kommt uns eine Dau entgegen. In einer halben Stunde werden wir Kipungani und die Inselspitze erreicht haben. Dort erwarten uns breite, unberührte Strände, an denen wir für einige Stunden vor Anker gehen. Matata, Hans-Dampf und bekannter Guide Lamus – neben der Dau führt er hauptsächlich ein Gästehaus gleichen Namens –, hat ein Gespür für das, was Wazungu, Europäer/Weiße, wollen und wie er das Dau-Erlebnis zelebriert. Jetzt muss er wieder an eine der Klappen unter den Sitzen, holt dort ein Kochgestell aus rohem Eisen hervor und entzündet anschließend die Grillkohle. Während Jay das Boot weiter steuert, putzen Matata – und vor allem Nakala – Gemüse, schneiden Zwiebeln und Tomaten. Sie setzen Wasser auf und garen den auch in Kenia verbreiteten Grünkohl, skuma wiki.alex-tannen-kenia-lamu-9

An uns ziehen zwei, drei kleine Tourismusdörfer entlang, die sich elegant in die Dünenlandschaft einfügen, aber genauso ausgestorben zu sein scheinen, wie der Landstrich an diesem Ende der Insel. Hier, kurz vorm Ozean, hat sich der Meeresarm deutlich geweitet, zu einer großen, mehrere Kilometer breiten Bucht, eingerahmt von Lamu und dem Festland, die auf der offenen Seite schließlich zum Meer hinausführt. Wir werfen den Anker – und ich springe sofort ins Wasser. Es ist eine willkommene Erfrischung, denn Lamu-Town bietet keine geeigneten Badestellen. Doch ich muss aufpassen, dass mich die Strömung, wir haben Ebbe, nicht mit aufs Meer zieht. Ich navigiere mich zum Strand und bleibe dort im seichten Wasser liegen. Die Sonne scheint weiter, doch mehr und mehr ziehen einzelne Wolken auf. Im Schatten einer kleinen, offenen Hütte in den Dünen, die vor allem aus einem großen Dach besteht, kann ich mich vor der Mittagssonne schützen und ein bisschen dösen.

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Eine halbe Stunde später ruft mich Matata zum Essen zurück auf die Dau. Ich klettere ins Boot, und es erwartet mich ein voller Mittagstisch. Matata hat Fisch gebraten oder braten lassen: Red und White Snapper, dazu Ugali, den landestypischen Brei, Gemüse und Kachumbari, frischen Salat mit Zwiebeln, Tomaten und Chili. Im Wind wehen die Flaggen Kenias und der Rasta-Bewegung inklusive Bob Marley-Konterfei, es ist angenehm frisch. Beherzt greife ich zu, denn das anstrengende Schwimmen in der Strömung der Bucht hat mich hungrig gemacht.

Wir nehmen Anhalter mit

Die brütende Sonne ist nun hinter einer Wolkendecke verschwunden, der Wind bläst stärker. Würden wir jetzt zurücksegeln, wären wir sicher in der Hälfte der Zeit wieder zuhause. Nun kommt Regen auf und vom Ozean nähern sich weitere, bedrohlich dunkle Wolken. Erst einmal schützt uns aber das Sonnensegel vor den ersten Schauern und so bringe ich das Mittagessen unfallfrei zu Ende. Dann wird es ungemütlich, der Regen nimmt zu und Matata schlägt vor, die offene Bucht zu verlassen, etwas zurückzufahren und im Hinterland einen geschützteren Flecken zu suchen. Wir stimmen zu und tatsächlich hört der Regen bald auf, was aber sicherlich nicht an unserer Ortsveränderung liegt.

Wenn es zu flach ist, muss die Dau geschoben werden.
Wenn es zu flach ist, muss die Dau geschoben werden.

Kurz vor der Rückfahrt am Nachmittag fragt mich Matata, ob wir zwei Anhalter mitnehmen können – ein einheimisches Ehepaar, das in die Stadt möchte. Natürlich willigen wir ein. Dass noch ein Huhn dazu gehört, höre ich erst später. Wir hissen wieder das typische Dreieckssegel der Daus und nehmen rasch an Fahrt auf. Unterdessen hatte Matata Holzkohle nachgelegt und Kaffeewasser aufgesetzt. Zum Kaffee gibt es keine Milch, stattdessen schnipselt Matata etwas Ingwer hinein. Dazu gibt es reichlich Mango – mit 50 Cent pro Stück allerdings nicht gerade billig, denn reife Früchte sind aktuell auf dem Markt fast gar nicht zu erhalten. Ich habe mich auf die Dau-Spitze gesetzt und unterhalte mich mit Matata, der ebenso wie ich die Fahrt genießt. Plötzlich ein kurzes Bremsen. Nanu, etwa eine Sandbank? Doch schon fahren wir weiter. Kurze Zeit später stoppt es erneut, und jetzt sitzen wir fest. Tatsächlich, eine Sandbank. Es hilft nichts, nun muss auch Matata mal richtig ran: Er und Nakala ziehen rasch ihre T-Shirts aus und springen ins flache Wasser. Kurz suchen sie nach dem richtigen Weg, versuchen, wie einen Löffel im Pudding das Boot hin- und herzunavigieren. Nach dem Trial-and-Error-Prinzip findet sich schließlich eine tiefere Stelle und wir fahren dichter am Land entlang.

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Es hat wieder aufgeklart, und wir haben die Sonne und den Wind im Rücken, als wir an der Nordecke der Insel wieder in den Lamu-Channel einbiegen, das Segel reffen und den Motor anwerfen. In der Ferne liegt die Stadt im Gegenlicht und während wir ihre Ausläufer passieren, sehe ich, dass sich die Ehefrau unseres Anhalter-Paares vollverschleiern musste. Das hübsche Gesicht ist verschwunden, nur ein Sehschlitz lässt ihr den Blick frei. Ich ziehe mir zumindest längere Hosen über, bevor wir in den Hafen einlaufen und ich mit dem übrig geblieben Red Snapper im Korb das Boot verlasse.

 

Hier geht es zum zweiten Teil.