Unrat türmt sich meterhoch, Abfall liegt im Hafenbecken, Gerümpel überall. Willkommen im Unesco-Weltkulturerbe. Doch hinter den Fassaden Lamu-Towns beginnt das Paradies: Üppige Gärten, liebevoll restaurierte Häuser, lauschige Hotels. Ein Rundgang durch die Altstadt Lamus, den Stadtteil Mkomani, verursacht gemischte Gefühle. Neben einer stilvollen Herberge: Heruntergekommenes Brachland übersät mit Plastiktüten. Von der sonnenüberfluteten Guesthouse-Terrasse im ältesten Stadtteil Stone Town schweift der Blick ins von der Ebbe freigelegte, vermüllte Brackwasser. Aufgegebene Schrottboote säumen das Ufer, Häuser verfallen, nur die Hälfte der Seafront ist befestigt, der Rest der Promenade besteht aus Geröll, Schutt und vergessenen Sandhaufen. Da ist es ein Trost, dass zumindest die mehreren Tausend Esel alle organischen Abfälle vertilgen, und ihre eigenen Hinterlassenschaften in der Äquatorsonne trocknen und sich festtreten.

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Eine schmale Gasse ist die Haupteinkaufsstraße

Die wichtigste Geschäftsstraße ist nicht die Seafront – die erst rund 200 Jahre nach der Stone Town durch Landgewinnung entstanden ist – mit den Hotels, Restaurants und drei Banken, sondern eine schmale Gasse, die parallel dazu quer durch die gesamte Stadt verläuft. In der „Main Street“ gibt es traditionsreiche Tischler in mehr als 300 Jahre alten Häusern (Al Hussein Handcraft), Kleidungsgeschäfte für traditionelle Hijabs, Kangas, Kikois und Buibuis, Garküchen und Grillstände. Unweit der Apotheke steht das Geschäft für traditionelle Medizin und mehrere für Miraa, ein angebliches Rauschmittel zum Kauen mit allenfalls homöopathischer Wirkung. Alle Busgesellschaften haben hier ihre Büros. Für die Alltagsdinge sorgen gut besuchte „Mini-Supermärkte“, ein Zeitungsladen (Tageszeitungen erreichen Lamu gegen 16 Uhr), Gemüsestände und ein paar Haushalts- und Elektronikgeschäfte, doch in den zahlreichen Galerien (Schmuck, Bilder und Holzskulpturen) warten die Besitzer und Künstler vergeblich auf Käufer. Sie alle leiden unter der drastischen Besucherflaute.

Ein deutsches Postamt

In der Main Street ist die Orientierung leicht, die Gasse ist der rote Faden der Stadt. Nur an einer Stelle blockiert ein regelrechter Knick den Lauf, als ob ein bockiger Hausbesitzer hier die Stadtentwicklung beenden wollte. Die allgegenwärtigen Handkarren kommen an diesem Nadelöhr nicht weiter, Esel und Fußgänger schon. Drei Schritte nach links, einen nach rechts und schon ist man wieder auf der Spur, bevor sich die Gasse am Lamu Fort für 150 Meter zum Mkunguni, dem Hauptplatz, öffnet, an dessen Seite sich auch der traditionelle Markt befindet.

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Weitere 100 Meter dahinter prangt schon von weiten ein Wappen mit dem Deutschen Reichsadler. Es ist das German Post Office Museum und erinnert an das erste Postamt in Ostafrika: 1888 hatte der deutsche Konsul, Geograf und Architekt Gustav Denhardt im Auftrag des Deutschen Kaiserreiches im strategisch bedeutenden Lamu eine Post aufgemacht – damals nicht nur ein Service, sondern vor allem ein Symbol, um Gebietsansprüche zu zementieren. Der Zement hat allerdings nur zwei Jahre bis 1890 gehalten, dann hat Deutschland mit Großbritannien im Helgoland-Sansibar-Vertrag die Territorialfragen geklärt, auf diesen Teil Afrikas verzichtet, dafür den Kern des heutigen Tansanias und die Insel Helgoland (zurück-)erhalten. Die Postschalter schlossen sich für immer – und so erinnern heute nur noch schweres Mobiliar und schwarze Puppen in kaiserlicher Postuniform an diese kurze deutsche Episode in Lamu.

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Weitere 200 Jahre zurück geht es im nördlichen Hinterland der Main Street, dort erwartet den Besucher ein Märchen aus 1001 Nacht: Orientalische Häuser, verwinkelte Gassen, blühende Gärten und historische Hotels im Swahili-Stil mit spektakulärem Wasserblick vom Roof-Top-Restaurant (Stone House Hotel, Jannat House). Das höchste Haus ist das – unbeschilderte – Pole Pole Hotel, dessen Dachterrasse sich wie ein Turm über die Stadt erhebt und einen völlig neuen Blick auf den Lamu Channel und das Archipel freigibt, aber auch auf die zu Müllhalden umfunktionierten Dächer mit vergessenem Baumaterial, alten Bettgestellen und nach dem Mikadoprinzip verlegten, sich kreuzenden Wasserrohren.

Alte Handwerkstradition

Steht die Sonne in der Flucht einer Gasse, bieten einige großzügige Hauseingänge schattige Rastplätze. Diese Nischen sind ausdrücklich für die Öffentlichkeit gedacht, oft sitzen dort stundenlang Fußgänger auf den Steinbänken und schwatzen. Gleichzeitig bieten diese Vorhöfe dem Fremden die einzige Möglichkeit zu erahnen, wie viel Mühe sich Hausbesitzer und Handwerker gegeben haben – einst und heute bei der Restaurierung: Verschnörkelt bemalte Deckenbalken, prächtige Laternen und die massiven Swahili-Türen – die auf Lamu schlichter gestaltet sind, als etwa auf Sansibar. Auf Lamu wird in der Regel nur der Türrahmen verziert. Manche der Fassaden bestehen aus weiß-rosa Korallengestein, das in Steinbrüchen der Umgebung abgebaut wird.

Typische Swahili-Tür.
Typische Swahili-Tür.

Wer Glück hat, dem macht ein freundlicher Wachmann – ohne Wissen des Besitzers, der wahrscheinlich in Hollywood gerade seiner Arbeit nachgeht – die Türen zu den aufwändig und stilvoll restaurierten, privaten Gästehäusern auf, etwa dem Pool-House. Ich denke, in einem antiken Herrenhaus Eintritt zu erhalten: Gleich hinter der schweren Swahilitür eröffnet sich ein schattiger Hof mit einer hohen Palme, die von einer runden Bank eingefasst wird. An großen alten Tonkrügen geht es durch Säulengänge hin zum zentralen, langgestreckten Wasserbecken, eingerahmt von berankten Außenmauern – wie in einem alten römischen Bad. Es scheint, als seien mehrere Nachbarhäuser zusammengelegt worden, so verwinkelt und verschieden sind die Gebäudeteile. Mehrmals meine ich, durch eine neue Eingangstür zu schreiten. Viele Räume entsprechen eher offenen Terrassen als Schlafzimmern, sie haben nur den nötigsten Sichtschutz, ansonsten ist der Blick frei auf die Stadt, das Wasser oder den Garten des Nachbarn.

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Edle Kaufmannspaläste

Im Palm Beach House weht der Wind romantisch ums Himmelbett in der Mitte des obersten Raums und spielt wild mit den Vorhängen. Balkone, begehbare Dächer und Loggien im Überfluss – auf jeder Ebene und in jede Blickrichtung gibt es Aussichtsplattformen. Wer in der Enge einer orientalischen Altstadt ein Haus errichtete, wollte zumindest in den oberen Etagen viel Licht und einen Blick bis zum Horizont. Riesige Dächer aus Palmblättern schützen vor der Sonne, die Außenwände bestehen vollständig aus Steinbänken mit eingebauten Armstützen, Kopfteilen und einer Oberfläche aus Niru, einem glatten, geschmeidigen Material. Einige dieser Häuser kann man mieten, wenn die betuchten, fast ausschließlich europäischen und amerikanischen Besitzer nicht in der Stadt weilen. Da sie jedoch oft nicht auf Einnahmen aus der Vermietung angewiesen sind, betreiben sie kein offensives Marketing.

Lamu hat angeblich mehrere Tausend Esel.
Lamu hat angeblich mehrere Tausend Esel.

Ständiger, meist stummer Begleiter auf Lamu sind die mehreren Tausend Esel: Da auf Lamu nur zwei Autos zugelassen sind, übernehmen die angeblich rund 3.000 Tiere den Lastentransport, es gibt sogar ein eigenes Hospital für sie an der Seafront. Innerhalb des Stadtgebiets sehe ich sie allerdings nur sehr selten etwas transportieren. Tatsächlich trotten die meisten Esel stoisch durch die Stadt, drehen selbständig ihre Runden durch das Gassenlabyrinth, biegen konsequent unvorhersehbar wie Pacman-Figuren im Pulk um die Ecke und bahnen sich ihren Weg, suchen nach etwas Essbarem und schauen auch einmal durch den Eingang eines Ladens. Manchmal tragen sie Sand und Erde von einer Baustelle, hin und wieder Kinder, die durch die Straßen stieben. Die vermeintlich phlegmatischen Gesellen können also ordentlich aufdrehen: Wenn sie mit einem Passagier durch die engen Gassen rasen, heißt es „Punda, Punda!“ und alle müssen sich an die Hauswand pressen und die Bäuche einziehen. Esel haben uneingeschränkte Vorfahrt.

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Wer sich jenseits der Main Street bewegt, sollte eine Karte dabeihaben. In den Straßenschluchten gibt es keinerlei Orientierungspunkte und keine weitere durchgehende Parallelgasse. Die Passagen und Durchgänge sind namenlos. Einzig Hinweisschilder zu Galerien und Hotels weisen die Richtung. Ständig geht es im Zickzack weiter, manche Wege sind so eng, dass nicht einmal ein Esel durchpasst. Lange, fast tunnelartige Gänge steigen leicht mit dem Hügel an und knicken dann plötzlich ab, sodass ich nicht weiß, dass mich dahinter lauschige Tordurchgänge, blühende Bougainvilleas und berankte Hausfassaden erwarten oder eine verwitterte Ruine, die aussieht wie ein Korallensteinbruch.

Doch unbedingt nach unten schauen und aufpassen: Wie in Shela durchziehen offene Abwasserrinnen die Stadt, hin und wieder quert eine den Weg, doch zum Glück gibt es für die Toiletten Sickergruben. Lamu-Town: Magisch und romantisch oder heruntergekommen und unappetitlich? Die Antwort gibt mir an der nächsten Ecke ein angestauter Abwasserkanal voller violetter Blüten.